Falsetto
wieder verschwunden. Die Contessa bemühte sich wieder um Tonios Aufmerksamkeit.
»Tonio, ich möchte, daß du Signore Ruggerio kennenlernst«, beharrte sie, so als wäre es inmitten all dieses Trubels durchaus möglich, sich zu unterhalten.
Er verbeugte sich vor dem Mann, schüttelte die ihm dargebo-tene Hand. Dann spürte er, wie ihn jemand am Ärmel zupfte.
Als er sich umdrehte, sah er, daß es die alte Marchesa war, die ihm jetzt mit ihren trockenen Lippen abermals einen Kuß auf die Wange drückte. Er spürte eine Woge der Zuneigung für die alte Dame mit den trüben Augen und der zerknitterten weißen Haut. Ihre Hand jedoch, mit der sie ihn festhielt, war reptilienartig und überraschend kräftig.
Die Contessa unterhielt sich gerade mit Signore Ruggerio, da wurden sie ganz unerwartet angerempelt, so daß die Contessa haltsuchend ihren Arm um Tonios Taille schlang. Etwas war ihm plötzlich wieder eingefallen:
»Contessa«, flüsterte er, »diese junge blonde Frau.« Er hatte erwartet, sie jeden Augenblick zu sehen, aber sie war einfach nicht da. Beklommen verstummte er plötzlich, während er noch mit hilflosen Gesten ihr widerspenstiges Haar zu beschreiben versuchte. »Sie hat blaue Augen, aber ganz dunkelblaue«, mußte er noch gemurmelt haben, »und so hübsches Haar.«
»Ach, du meinst wohl meine kleine Cousine, die vor kurzem Witwe geworden ist«, sagte die Contessa, während sie ihn weiterzog, um ihn erneut jemandem vorzustellen. Es war diesmal ein Engländer aus der Botschaft. »Sie trauert gerade um ihren Ehemann, mein Lieber, meinen sizilianischen Cousin. Aber davon habe ich dir doch erzählt, oder? Und jetzt möchte sie nicht nach England zurück.« Sie schüttelte den Kopf.
»Eine Witwe ...!« Hatte er richtig gehört? Er verbeugte sich gerade vor jemandem. Signore Ruggerio sagte in diesem Moment irgend etwas von offensichtlicher Wichtigkeit zur Contessa, so daß sie mit diesem davoneilte.
Eine Witwe! Wo war Guido? Er konnte ihn nirgends entdekken. Dann aber sah er Maestro Cavalla ganz am anderen En-de des Raumes. Guido stand bei ihm, die Contessa ebenfalls und auch der kleine Mann, Ruggerio.
Eine Witwe, dachte er. War es möglich, ein noch sinnlicheres Licht auf sie zu werfen? War es möglich, sie noch verlockender, noch erreichbarer erscheinen zu lassen, als sie in einem einzigen Satz zu verheiraten und zur Witwe zu machen, wodurch sie für immer aus dem unerreichbaren Chor der Jungfrauen, zu dem er sie gezählt hatte, ausgestoßen wurde?
Er entschuldigte sich jetzt bei den Umstehenden und versuchte vergebens, ans andere Ende des Saales zu Guido und dem Maestro zu gelangen.
Dann sah er, wie Paolo, der in seinem Putz wie ein kleiner Prinz wirkte, durch die Menge auf ihn zugestürmt kam. Er umarmte Tonio.
»Was machst du denn hier?« fragte Tonio, während er dem alten russischen Grafen Sherzinski zunickte, der ihn eben ge-grüßt hatte.
»Der Maestro hat mir erlaubt mitzukommen, damit ich dich singen hören kann.« Paolo hatte sich an ihn geklammert. Er fand das Ganze offensichtlich so aufregend, daß er kaum ein Wort herausbrachte.
»Was soll das heißen? Wußte er denn, daß ich singen wür-de?«
»Alle wußten es«, sagte Paolo atemlos. »Piero ist hier und auch Gaetano und...«
»Ahhhh, Guido!« flüsterte Tonio.
Aber er mußte fast lachen.
Diesmal gelang es ihm, sich aus dem Menschenknäuel zu lösen. Er zog Paolo hinter sich her, da sah er, daß Guido, der Maestro und Ruggerio gerade den Raum verließen.
Er eilte ihnen nach, doch als er den Korridor erreichte, hatten sich die drei Männer bereits in irgendeinen anderen Salon begeben. Alle Türen waren geschlossen. Er hielt an, um Luft zu schöpfen, aber auch, um einfach die Erregung, die er spür-te, auszukosten.
Er war so glücklich, daß er nichts anderes tun konnte, als die Augen zuschließen und zu lächeln. »Also haben es alle ge-wußt«, sagte er.
»Ja«, antwortete Paolo, »und du hast niemals besser gesungen. Tonio, das werde ich, solange ich lebe, nicht vergessen.«
Dann verzog er aber plötzlich das Gesicht, als wolle er zu weinen anfangen.
Er schmiegte sich eng an Tonio. Mit seinen zwölf Jahren war er eine Bohnenstange von einem Jungen und konnte schon den Kopf an Tonios Schulter legen. Tonio spürte erschrocken, daß Paolo großen Kummer haben mußte.
»Paolo, was ist los?«
»Es tut mir leid, Tonio, aber weißt du, wir sind gemeinsam nach Neapel gekommen, und jetzt gehst du fort, und ich bin dann
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