Falsetto
bemalte Uhr ging vor.
Mit einem Mal knöpfte er seine Weste zu, strich sich den Rock glatt und ging zur Tür. Vielleicht hatte man ihn vergessen, und Guido war tatsächlich bei der Contessa. Im Haus war es still.
Das Treppenhaus war jedoch hell erleuchtet. Als er die Ohren spitzte, hörte er schließlich Stimmen. Da drehte er sich um und machte sich auf den Weg zur Hintertreppe. Es war noch genauso warm wie zu Beginn des Abends. Als er ins weiche Gras hinaustrat, sah er über sich zahllose Sterne. Aus den Fenstern des Salons fiel Licht. Er ging näher heran und sah, daß Maestro Cavalla immer noch da war. Guido sprach gerade mit Signore Ruggerio. Signore Ruggerio beschrieb mit seinem Finger auf dem blanken Tisch irgendwelche Figuren, während die Contessa dabei zusah.
Tonio drehte sich um. Trotz seiner ungeheuren Erregung wuß-
te er, daß er nicht hineingehen durfte.
Er durchschritt rasch den Garten, fand seinen Weg zu den Rosenbeeten und steuerte dann, langsamer werdend, auf jenes Nebengebäude zu, das in vollkommener Dunkelheit dalag.
Einen Augenblick lang kam hell der Mond hinter den Wolken hervor, und kurz bevor er wieder verschwand, sah Tonio, daß die Tür des Gebäudes immer noch offenstand. Er ging leise darauf zu. Nur das Gras unter seinen Füßen raschelte. Tat er etwas Falsches, wenn er dort hineinging, wo doch alles so einladend offenstand? Er sagte sich, daß er nur bis zur Schwelle gehen würde.
Während er sich mit der Hand zaghaft am Türrahmen abstütz-te, sah er die Bilder vor sich. Sie waren der Farbe beraubt. Die gemalten Gesichter waren im Halbdunkel nur undeutliche, helle Flecken. Langsam nahm nun der heilige Michael vor seinen Augen Gestalt an, dann erkannte er weiße Flächen auf der Leinwand. Das Bild war noch unvollendet. Seine Schritte hallten laut auf dem Schieferboden, dann ließ er sich vorsichtig auf der Bank vor dem Bild nieder. Unter einem Gebilde, das eine schwarze Masse von Bäumen zu sein schien, konnte er eine Ansammlung von Figuren, weiß und verschlungen, ausmachen.
Es machte ihn wahnsinnig, daß er nichts richtig erkennen konnte, außerdem kam er sich wie ein Eindringling vor. Er wollte ihre Pinsel nicht berühren, die kleinen Farbtöpfe, die luftdicht abgedeckt waren, nicht einmal das Tuch, das zusammengefaltet daneben lag. Aber diese Gegenstände faszi-nierten ihn. Er erinnerte sich daran, wie sie vornübergebeugt dagesessen hatte, und hörte in Gedanken wieder ihre Stimme, diesen entzückenden Sopran, der ein wenig undurchsichtig war.
Nachdem er einen Moment mit seinem Gewissen gerungen hatte, nahm er ein Schwefelholz von einem Tischchen in der Nähe und zündete die Kerze zu seiner Rechten an.
Die Flamme zischte, wurde größer. Langsam erfüllte eine gleichmäßige Beleuchtung den Raum. Das große Bild, das an der Wand lehnte, wurde farbig, während auf dem Gemälde vor ihm ein Garten zu sehen war, in dem geschmeidige goldhaari-ge Nymphen tanzten. Sie hielten dabei Blumengirlanden in den zarten Händen. Ihre hauchdünnen Kleider vermochten sie kaum zu verhüllen.
Das war in keiner Weise so keusch und streng wie ihre Wandgemälde in der Kapelle der Contessa. Es war lebendiger und weitaus kunstvoller. Warum auch nicht? überlegte er. Was hatte er in drei Jahren nicht alles über das Singen gelernt?
War es da nicht natürlich, daß sie auch mit dem Pinsel Fortschritte gemacht hatte? Dennoch konnte er in den Gesichtern der Nymphen hier etwas entdecken, das sie fraglos mit jenem der Jungfrau Maria in der Kapelle verband, die er so viele Ma-le bewundert hatte. Er starrte die nackten Glieder dieser Nymphen an, jedoch mit einer leisen summenden Faszination, die ihn plötzlich beschämte.
Die Farbe war noch frisch. Wenn er sie berührte, würde er sie beschädigen, aber er wollte sie ohnehin nicht berühren. Er wollte lediglich alles betrachten und daran denken, daß sie das gemalt hatte.
Ihm kam wieder in den Sinn, was Guido ihm über das Begräbnis in Sizilien erzählt hatte. Also war sie die kleine englische Cousine, die kleine Witwe, die sich in den schrecklichen Katakomben so gefürchtet hatte, daß man sie hatte hinausbringen müssen. Er dachte daran, daß sie nun allein war, keinen Mann mehr hatte, und fragte sich, ob das noch schlimmer für sie war, als es ihre Ehe gewesen sein mußte.
Traurigkeit überfiel ihn, eine leise, aber unermeßliche Traurigkeit. Da wurde ihm bewußt, daß sie jedesmal, wenn er sie gesehen hatte, egal an welchem Ort, egal wie viele
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