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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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für mich. Ich habe in Palermo eine schwere Zeit durchgemacht.
    Ich habe meinen Cousin sehr geliebt, aber er war ein fürchterlicher Narr. Und seine kleine Frau, die hat so schrecklich und so unnötig gelitten. Es gibt nur eine einzige Sache, die mich heute abend aufheitern kann, und das ist, wieder zu singen.
    Ich möchte Guidos Komposition singen, und zwar mit dir zusammen!«
    Er starrte sie an. Er forschte in ihrem Gesicht und versuchte herauszufinden, ob das alles eine Lüge war, ein Trick. Doch sie schien es ganz aufrichtig zu meinen. Ohne es zu wollen, sah er auf die Partitur hinunter. Es war Guidos schönste Sere-nata a due, Venus and Adonis, eine entzückende Serie von Liedern. Dann stellte er sich eine Sekunde lang vor, sie zu singen, nicht einfach beim Üben mit Piero, sondern hier...
    »Nein, es ist unmöglich, Contessa, bitten Sie mich um etwas anderes...«
    »Er weiß nicht, was er da sagt«, mischte sich Guido jetzt ein.
    »Aber Guido, ich habe das noch nie für eine Aufführung ge-probt. Ich habe es vielleicht zweimal mit Piero gesungen.«
    Dann flüsterte er leise: »Guido, wie konntest du mir das antun!«
    »Liebstes Kind«, sagte die Contessa. »Ein Stück weiter unten auf diesem Flur befindet sich ein Salon. Dort kannst du üben.
    Du hast eine Stunde Zeit. Und sei nicht böse auf Guido. Es ist nämlich mein Wunsch.«
    »Ist dir denn nicht klar, was für eine Ehre das ist?« sagte Guido. »Die Contessa höchstpersönlich wird zusammen mit dir singen.«
    Reingelegt. Man hat mich reingelegt, dachte er. In einer Stunde würden unter diesem Dach dreihundert Leute versammelt sein. Dann dachte er wieder an die Partitur. Er kannte die Partie des Adonis sehr gut, wußte, von welch hoher und süßer Reinheit sie war, und sah die Zuhörer im Geiste schon zu Trä-
    nen gerührt. Sie machten es ihm leicht, nicht wahr? Sie ersparten ihm die Gewissensprüfung, ersparten ihm den langen kräftezehrenden Kampf mit sich selbst. Insgeheim war ihm klar, was passieren würde, wenn er es einfach geschehen ließ: Das Entsetzen würde sich in Euphorie verwandeln, wenn er erst einmal all die Blicke sah, die auf ihm ruhten, wenn er erst einmal wußte, daß es einfach kein Entkommen mehr gab.
    »Geh dich vorbereiten.« Guido schob ihn auf die Tür zu. Dann flüsterte er: »Tonio, wie kannst du mir das antun!«
    Tonio machte es sich schwer, sträubte sich, aber sein Gesicht hatte bereits einen leeren, verträumten Ausdruck angenommen. Er spürte, wie sich sein Zorn, jetzt, da die Schlacht verloren war, besänftigte. Er wußte, wußte ganz genau, daß nun der Augenblick gekommen war, um jene Stärke zu erlangen, die er sich so sehr gewünscht hatte, als er Caffarelli an diesem Abend singen gehört hatte.
    »Du glaubst also, daß ich es kann?« Er sah Guido an.
    »Natürlich«, sagte Guido. »Du hast es perfekt gesungen, als ich es dir damals das erste Mal vorgelegt habe. Da war die Tinte noch nicht ganz trocken.« Dann flüsterte er: »Tonio, das ist der richtige Zeitpunkt.«

    Der Augenblick war gekommen, daran bestand kein Zweifel, und er war zu begierig danach, um Angst zu haben. Allerdings brauchte er volle anderthalb Stunden, bevor er sich mit dem Taschentuch die Stirn abwischte, die Kerzen über dem Cembalo ausblies und sich auf den Weg zur Treppe machte.
    Dann packte ihn einen Augenblick lang die Angst, nein, mehr als das, es war das nackte Entsetzen. Nun nämlich war der unvermeidliche Moment gekommen, wo jeder geladene Gast anwesend war. Diejenigen, die früh erschienen waren, waren noch nicht gegangen, jene, die später kamen, waren gerade eingetroffen. Stimmengewirr und Lachen schwappte sanft gegen die Wände. Wo er auch hinsah, erblickte er Männer und Frauen, schillernde Seidenstoffe und Perücken. Sie navigier-ten wie weiße Segel durch diese stürmische See, die durch Spiegel und gähnende Türen brandete.
    Er rollte die Notenblätter zusammen und begann, ohne einen weiteren zusammenhängenden Gedanken fassen zu können, die Treppe hinunterzusteigen. Als er jedoch auf das Orchester zuging, erlebte er einen noch größeren Schock. Soeben war Caffarelli persönlich hereingekommen. Er küßte gerade der Contessa die Hand.
    Nun, damit war alles vorbei, ganz sicher, das fühlte er. Niemand würde von ihm erwarten, in Caffarellis Gegenwart zu singen. Doch als er eben zu entscheiden versuchte, ob das nun gut oder schlecht war, tauchte Guido auf.
    »Brauchst du mehr Zeit?« fragte er sofort. »Oder bist du

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