Falsetto
ungewohnter Kraft um sie.
Tonio atmete tief ein, versuchte dabei, seinen Zorn abkühlen zu lassen. Er sagte zu sich: Dieser kleine Schmerz ist nicht genug.
»Euer Gnaden, lassen Sie mich jetzt gehen«, bat er sanft,
»denn ich empfinde für Sie nichts als Liebe und wünsche mir, daß Sie Ihren Seelenfrieden finden.«
Der Kardinal schüttelte den Kopf. Er starrte Tonio wütend an, dann gab er einen tiefen summenden Ton von sich. Sein Atem klang heiser, und sein Gesicht war leicht gerötet. Er umklammerte Tonios Arm noch fester. Tonio wurde langsam immer zorniger.
Es machte ihn wütend, so festgehalten zu werden und die Macht dieses Mannes spüren zu müssen.
Er war hilflos, das wußte er von vornherein. Gut genug konnte er sich an die Kraft dieser Arme erinnern, die ihn so mühelos, als wäre er eine Frau oder ein kleines Kind, im Bett herumgedreht hatten. Er dachte an jene Arme, die sich mit ihm in der Fechthalle gemessen hatten, die ihn in dunkle Schlafzimmer geschoben hatten, ihn fest an den Ledersitz seiner Kutsche gedrückt hatten. Arme, die ebenso die Äste eines Baums hätten sein können, und er dachte an jene schwelende Energie, die ein Mann direkt durch seine Poren auszuströmen schien, wenn er inmitten der Leidenschaft immer wieder den Beweis der Unterwerfung suchte.
Tonio wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er schien irgendeinen verzweifelten Laut von sich gegeben zu haben.
Ganz plötzlich machte er eine Bewegung, als wolle er dem Kardinal entfliehen oder ihn sogar schlagen. Da spürte er, daß er von einer unermeßlichen Kraft wie in einem Schraubstock festgehalten wurde. Er war in der Tat so hilflos, wie er es sich eingebildet hatte. Der Kardinal hielt ihn so fest, daß er ihm die Oberarmknochen hätte brechen können.
»Wolltest du die Hand gegen mich erheben, Marc Antonio?«
fragte er, als fürchte er die Antwort.
»O nein, Euer Gnaden«, sagte Tonio leise. »Ich wollte, daß Sie die Hand gegen mich erheben! Schlagen Sie mich, Euer Gnaden!« Er verzog bebend das Gesicht. »Ich würde sie gerne spüren, diese Kraft, die ich nicht begreife.« Er umklammerte die Schultern des Kardinals. Er hielt sich an ihm fest, als wolle er den zähen Muskeln, die dort waren, ihre Stärke nehmen.
Der Kardinal hatte ihn losgelassen und wich zurück.
»Etwas Natürliches bin ich wie die Blüten am Weinstock?«
flüsterte Tonio. »Oh, wenn ich nur einen von euch beiden verstehen könnte, wenn ich nur verstehen könnte, was ihr fühlt.
Sie mit Ihren Gliedmaßen, die Sie, wenn ich selbst unbewaff-net bin, wie Waffen gegen mich verwenden können. Und sie, die Sanfte mit ihrer zarten Stimme, die wie leises Glockenläuten klingt. Und unter ihren Röcken diese geheime weiche Wunde! Oh, wenn ihr beide nicht ein solches Geheimnis für mich darstellen würdet, wenn ich doch zu dem einen oder dem anderen Geschlecht gehören könnte, oder sogar zu beiden!«
»Du redest irre«, flüsterte der Kardinal. Er streckte die Hand aus und befühlte Tonios Wange.
»Irre?« murmelte Tonio leise. »Irre! Sie haben mir abgeschwo-ren, haben mich in ein und demselben Atemzug natürlich und schlecht genannt. Sie haben mich als etwas bezeichnet, das die Männer in den Wahnsinn treibt. Welche Bedeutung soll ich diesen Worte denn überhaupt abgewinnen? Wie soll ich sie ertragen? Und dennoch sagen Sie, ich würde irre reden. Was war das irre Orakel von Delphi anderes als eine erbärmliche Kreatur, deren Gliedmaßen die unglückliche Gestalt eines Objekts der Begierde besaßen!«
Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und drückte die Hand dabei fest auf die Lippen, so als wolle er den Fluß seiner Worte gewaltsam stoppen.
Er merkte, daß der Kardinal ihn stumm anstarrte.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
»Vergib mir, Marc Antonio«, sagte der Kardinal schließlich langsam und mit leiser Stimme.
»Und warum, Euer Gnaden, wofür?« fragte Tonio. »Dafür, daß Sie sich selbst hier großzügig und geduldig zeigen?«
Der Kardinal schüttelte den Kopf, als ginge er mit sich zu Rate.
Zögernd löste er den Blick von Tonio und machte ein paar Schritte auf seinen Schreibtisch zu, bevor er sich umsah. Er hielt sein silbernes Kruzifix in der Hand, das Kerzenlicht spielte auf dem roten Moirétaft seiner Robe. Seine Augen waren unter ihren glatten Lidern als schmaler schimmernder Spalt zu erkennen. Er machte ein unsagbar trauriges Gesicht.
»Wie entsetzlich es ist«, flüsterte er, »daß ich mit meiner
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