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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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»Hilf mir, eine Antwort zu finden. Hast du keine Schuldgefühle, Marc Antonio, empfindest du keine Reue? Hilf mir zu verstehen!«
    »Aber Euer Gnaden!« antwortete Tonio plötzlich, ohne nachzudenken. Er war mehr erstaunt als zornig. »Jeder, der Sie auch nur eine kurze Zeit kennt, weiß, daß Sie Christus gehö-
    ren. Als ich Sie zum ersten Mal erblickte, sagte ich: ›Da ist ein Mann, der einen Grund hat, zu leben.‹ Aber ich besitze weder Ihren Glauben, Euer Gnaden, noch leide ich darunter, ihn nicht zu besitzen, und ich habe nicht die Schuldgefühle, die Sie be-lasten.«
    Dies schien den Kardinal sehr aufzuwühlen. Er erhob sich abermals und nahm Tonios Kopf in die Hände. Die Geste beunruhigte Tonio, aber er blieb ruhig stehen. Er spürte, wie der Kardinal seine Daumen direkt unter seinen Augen sanft in sein Gesicht drückte.
    »Marc Antonio, es gibt Menschen, die glauben an keinen Gott«, erklärte der Kardinal, »und dennoch würden sie das, was zwischen uns geschehen ist, als unnatürlich verurteilen, als etwas, das dazu bestimmt ist, uns beide ins Verderben zu stürzen.«
    »Euer Gnaden, warum sollte es uns ins Verderben stürzen?«
    wollte Tonio wissen. Das Ganze war ihm höchst unangenehm.
    Er wollte, daß der Kardinal ihn einfach fortschickte. »Sie sprechen in einer Sprache mit mir, die mir fremd ist«, sagte er.
    »Das, was wir miteinander getan haben, bereitet Ihnen jetzt Gewissensbisse, weil Sie sich Christus angelobt haben. Wenn es dieses Gelöbnis aber nicht gegeben hätte, was wäre dann gewesen? Unsere Vereinigung war unfruchtbar, Euer Gnaden.
    Ich kann mich nicht fortpflanzen. Sie können sich durch mich nicht fortpflanzen. Was also spielt es dann für eine Rolle, was wir miteinander machen, welche Liebe, welche Zuneigung wir füreinander empfingen? Es hat kein Verderben in Ihr Alltags-leben gebracht. Ganz gewiß nicht in das meine. Es war schließlich Liebe, und was ist Schlimmes an der Liebe?«
    Tonio war jetzt wütend, wußte aber nicht genau, warum.
    Er war sich verschwommen bewußt, daß Guido einmal vor sehr langer Zeit etwas zu ihm gesagt hatte, das ganz genau dasselbe ausgedrückt hatte, nur auf eine sehr viel einfachere Art.

    Es war so eine ungeheure Frage, daß er ihr Ausmaß nicht erfassen konnte, und das gefiel ihm nicht. Es brachte ihm schmerzhaft zu Bewußtsein, wie zerbrechlich alle Gedanken-gebäude waren.
    Sünde, das war Bosheit. Das war Grausamkeit. Das waren jene Männer in Flovigo, die seine ungeborenen Söhne vernichtet hatten.
    Aber was seine Liebe zu Guido, seine Liebe zum Kardinal anging, da konnte ihm niemand einreden, daß das Sünde war.
    Nicht einmal das, was er in der geschlossenen Kutsche mit dem starken, dunkelhäutigen jungen Mann getan hatte, war Sünde gewesen. Auch in Venedig, in der Gondel, wo die kleine Bettina ihren Kopf an seine Brust gelehnt hatte, hatte er keine Sünde begangen.
    Dennoch wußte er, daß er diese Gedanken unmöglich vor einem Mann darlegen konnte, der ein Kirchenfürst war. Er konnte nicht zwei verschiedene Welten miteinander vereinen: die eine, die unendlich große Macht in sich vereinte und sich sowohl an der göttlichen Offenbarung wie auch an der Tradition orientierte; die andere, die sich in ihrer Vitalität nicht ver-leugnen ließ und die jeden dämmrigen Winkel auf dieser Erde beherrschte.
    Es machte ihn wütend, daß der Kardinal ihn gebeten hatte, diese beiden Welten zu vereinen. Und als er die Niederlage und die Traurigkeit in den Augen des Kardinals sah, fühlte er sich von diesem Mann durch Welten getrennt, so als wäre es schon sehr lange Zeit her, daß sie eine Beziehung miteinander gehabt hatten.
    »Ich kann für dich nicht die Verantwortung übernehmen«, flü-
    sterte der Kardinal. »Du hast mir einmal erzählt, daß die Musik für dich etwas Natürliches sei, das Gott in diese Welt entlassen habe. Auch du erscheinst mir, trotz all deiner exotischen Schönheit, natürlich wie die Blüten am Weinstock. Dennoch bist du für mich schlecht, und für dich hätte ich meine Seele in alle Ewigkeit der Verdammnis anheimgegeben. Ich begreife das nicht.«
    »Ach, dann bin es nicht ich, von dem Sie eine Antwort haben wollen«, sagte Tonio.

    In den Augen des Kardinals flackerte etwas auf. Er starrte Tonios gelassenes Gesicht an.
    »Weißt du denn nicht«, stieß der Kardinal zwischen den Zähnen hervor, »daß du einen Mann um den Verstand bringen kannst!«
    Er packte Tonio an den Armen, und seine Finger schlossen sich mit

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