Falsetto
mir je gewesen ist.« Dann bahnte er sich durch das Durcheinander einen Weg zu seiner Garderobe, wo der alte Nino in der Kohlenpfanne herumrührte und die Luft bereits so heiß wie in einem Backofen war.
Tonio war an diesem Morgen früh aufgewacht und hatte, als er zu singen begann, sofort eine Heiterkeit empfunden. Stundenlang hatte er die kompliziertesten Passagen geübt, bis sich seine Stimme so elastisch und kraftvoll anfühlte wie nie zuvor.
Er küßte Guido auf beide Wangen, bevor dieser ins Theater ging; Paolo wies er an, sich unters Publikum zu mischen und alles zu beobachten.
Und dann war er, während der Himmel immer noch wolkenlos war und sich in sanftem Lavendelblau über die von der Abendsonne beschienenen Hügel spannte, durch die schlam-migen Straßen in Tibernähe gewandert und hatte, während sich vor ihm eine Gruppe zerlumpter Kinder versammelte, zu singen begonnen.
Gerade kamen die ersten Sterne hervor. Zum ersten Mal seit drei Jahren hörte Tonio wieder, wie sich seine Stimme zwischen engen Steinmauern erhob. Mit feuchten Augen schraubte er seine Melodie immer höher, bis er Töne traf, an die er sich noch nie zuvor herangewagt hatte. Rund und makellos stiegen sie in die Nacht auf, die langsam über ihm hereinbrach. Von überallher waren Leute zusammengekommen.
Sie drängten sich in den Fenstern, den Toreingängen, sie scharten sich zu beiden Seiten der kleinen Straße. Sie boten ihm Wein und etwas zu essen an, als er geendet hatte. Sie brachten ihm einen Schemel hinaus und dann einen feinen Stuhl mit Gobelinbezug. Und wieder sang er für sie, jedes Lied, das sie sich wünschten, und die Ohren klingelten ihm von ihrem Jubel, dem Klatschen und den Bravorufen. Die Gesichter um ihn herum glühten vor Begeisterung, als schließlich der Regen kam.
Jetzt gab er Signora Bianchi einen Kuß. Dann auch Nino. Er ließ sich von ihnen die nasse Kleidung ausziehen und den Kopf mit Handtüchern abreiben. Er ließ sie schimpfen. Er ließ sie fluchen.
»Ich sage Ihnen, es wird wunderbar werden«, flüsterte er Signora Bianchi zu. »Ich sage Ihnen, es wird für Guido und für mich wunderbar werden.« Im stillen schwor er sich, daß er jede Minute davon genießen würde, sollte es nun ein Triumph oder ein Debakel werden. Was zählte, war, daß er endlich die Bühne betrat, und genau dort wollte er jetzt, in diesem Augenblick auch sein.
»Nun, meine Liebe«, sagte er zu Signora Bianchi, »dann beginnen Sie mit Ihrem Zauberwerk. Lassen Sie all die kleinen Versprechen, die Sie mir gegeben haben, wahr werden. Machen Sie mich zu einer so schönen Frau, daß ich selbst meinen eigenen Vater zum Narren halten könnte.«
»Sie schlimmer Junge.« Sie kniff ihm mit ihren weichen, hei-
ßen Fingern in den Nacken. »Sparen Sie sich Ihre Eloquenz für das Publikum auf und sagen Sie nicht so schreckliche Dinge zu mir.«
Im Stuhl zurückgelehnt, spürte er auf seinem Gesicht die ersten weichen, sinnlichen Striche ihres kleinen Pinsels, spürte den Zug ihres Kamms im Haar, spürte ihre heißen Hände.
Als er sich schließlich erhob und zum Spiegel umdrehte, empfand er dieses vertraute, aber deshalb nicht weniger beunruhi-gende Gefühl des Verlustes. Wo in dieser dunkelroten Sanduhr aus Satin steckte Tonio? Wo befand sich der Junge hinter diesen dunkel bemalten Augen, diesen roten Lippen und diesem wallenden weißen Haar, das in weichen Wellen seine Stirn umrahmte und ihm dann in vollen Locken den Rücken herabfiel?
Es kam ihm vor, als würde er schweben, während er die Frau im Spiegel anstarrte. Sie flüsterte ihm seinen Namen zu und zog sich dann zurück, als wäre sie ein Phantom und könne, während er still dastand, etwas von seinem Leben mitnehmen.
Er berührte mit den Fingern, die in Handschuhen steckten, seine bloßen Schultern, er schloß die Augen und betastete die vertrauten Konturen seines Gesichts. Dann merkte er, daß Signora Bianchi einen Schritt zurückgetreten war. Sie schien von der endgültigen Wirkung selbst überrascht zu sein. Als er sich ganz langsam zu ihr umdrehte, glaubte er zu spüren, daß sie Angst hatte.
Es schien, als hätte sich in einer anderen, entfernten Welt ein lautes Raunen erhoben. Der alte Nino erklärte, daß man den großen Kronleuchter im Zuschauerraum angezündet hatte.
Das Theater war bereits zum Bersten voll, obwohl noch so viel Zeit...
Er sah Signora Bianchi an. Sie wirkte alles andere als erfreut.
Der Blick ihrer kleinen, blinzelnden Augen huschte ängstlich über
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