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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Plötzlich jedoch packte der Mann Tonio am Arm.
    »Du erinnerst dich nicht an mich, oder, Tonio?« fragte er.
    »Ich muß gestehen, nein, Signore.« Tonio lächelte. »Bitte verzeihen Sie mir.«
    Aber es beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl. Der Ton des Fremden war höflich, aber seine Augen, die ein verwaschenes Blau zeigten und leicht tränten, so als würde er an einer Krankheit leiden, wirkten kalt.
    »Nun, ich wüßte gerne«, sagte der Mann, »ob du in letzter Zeit etwas von deinem Bruder Carlo gehört hast?«
    Tonio starrte den Mann lange an. Es kam ihm so vor, als wä-
    ren die Geräusche der Piazzazu einem mißtönenden Summen verschmolzen, er hatte ein Pochen in seinen Ohren und hörte plötzlich alles nur noch verzerrt. Er wollte hastig sagen:
    »Da müssen Sie sich irren -« Aber er merkte, wie ihm der Atem stockte, und verspürte eine körperliche Schwäche, die so ungewöhnlich war, daß ihn ein leichtes Schwindelgefühl erfaßte.
    »Bruder, Signore?« fragte er. Carlo. Der Name hatte in seinem Kopf ein zustimmendes Echo ausgelöst. Wenn sein Bewußtsein in diesem Moment eine Form gehabt hätte, dann wäre es ein ungeheurer und endlos langer Korridor gewesen. Carlo, Carlo, Carlo, flüsterte es in diesem Korridor widerhallend.
    »Carlo wie aus dem Gesicht geschnitten«, hatte jemand nur wenige Augenblicke zuvor gesagt. »Signore, ich habe keinen Bruder.«
    Der Mann richtete sich entrüstet und unendlich langsam auf, während seine wäßrig-blauen Augen langsam schmal wurden.
    In seiner ganzen Art lag eine bewußte und bühnengerechte Empörung. Aber er war nicht überrascht, obwohl er diesen Anschein erwecken wollte. Nein, er schien eine bittere Befriedigung zu empfinden.
    Noch erstaunlicher aber war, daß Alessandro Tonio zum Gehen drängte. »Sie entschuldigen uns, Exzellenz«, sagte er, und der Druck, den er auf Tonios Arm ausübte, war ein klein wenig unangenehm.
    »Du willst damit sagen, daß du nichts von deinem Bruder weißt?« sagte der Mann. Jetzt lag ein verächtliches Lächeln auf seinen Lippen.
    »Sie müssen sich irren«, sagte Tonio, so schien es ihm jedenfalls. Er empfand das ganze Unbehagen eines fürchterlichen Kopfschmerzes, nur daß er den Schmerz selbst nicht spürte.
    Instinktiv nahm er innerlich eine Abwehrhaltung ein. Dieser Mann wollte ihm schaden. Das war klar. »Ich bin der Sohn von Andrea Treschi, Signore, und ich habe keinen Bruder. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mir zu sagen, wer Sie sind ...«
    »Aber Tonio, du kennst mich doch. Erinnere dich. Und was deinen Bruder angeht, ich war erst kürzlich bei ihm in Konstantinopel. Er ist ganz begierig darauf, Neuigkeiten von dir zu hö-
    ren. Er fragte, ob es dir gutgeht, wie groß du schon geworden bist. Du siehst ihm wirklich außerordentlich ähnlich.«
    »Exzellenz, Sie müssen uns entschuldigen«, sagte Alessandro beinahe grob. Es sah so aus, als wolle er zwischen den Mann und Tonio treten.
    »Ich bin dein Cousin, Tonio«, sagte der Mann wieder mit diesem bewußten Blick, der grimmig und entrüstet wirken sollte.
    »Marcello Lisani. Und es betrübt mich, Carlo erzählen zu müssen, daß du so gar nichts von ihm weißt.«
    Er ging wieder zum Buchladen zurück, warf dabei einen Blick über die Schulter und sah Alessandro an. Dann flüsterte er leise: »Diese verdammten, unerträglichen Eunuchen.«
    Tonio zuckte zusammen. Die Worte des Mannes waren voller Verachtung gewesen, so als hätte er »Huren« oder »Schlam-pen« gesagt.
    Alessandro senkte lediglich den Blick. Er schien zu erstarren, dann verzog sich sein Mund zu einem leisen, geduldigen Lä-
    cheln. Er berührte Tonio an der Schulter und deutete auf ein Café unter den Arkaden.

    Kurz darauf saßen sie auf einer rauhen Bank direkt am Rande der Piazza . Die Sonne schickte ihre Strahlen bis unter das Gewölbe und wärmte sie. Tonio war sich jedoch kaum bewußt, daß sich nun genau das erfüllte, was er sich erträumt hatte, nämlich in einem Café, in dem feine Herren und Grobiane gleichermaßen verkehrten, zu sitzen und etwas zu trinken.
    Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ihn der Anblick des köstlichen jungen Mädchens, das auf sie zukam, aus seinen Gedanken gerissen. Es besaß genau jene Art von braunem Haar mit goldenen Strähnchen, das er so unaussprechlich schön fand, und Augen von derselben Mischung aus Dunkel und Hell.
    Aber er bemerkte das Mädchen kaum. Angelo erklärte gerade, daß der Mann wohl ein Verrückter sein müsse. Ganz offensichtlich hatte er

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