Falsetto
noch nie von ihm gehört.
Alessandro hatte bereits eine höfliche Unterhaltung über das wunderbare Wetter begonnen. »Sie kennen doch den alten Witz«, sagte er vertraulich und gelassen zu Tonio, so als hätte dieser Mann ihn nicht beleidigt, »wenn das Wetter schlecht ist und der Bucintoro sinkt, dann plumpst der Doge zu seiner Frau ins Bett, um die Ehe zu vollziehen.«
»Aber wer war dieser Mann und wovon hat er gesprochen?«
flüsterte Angelo leise. Er murmelte irgend etwas über Patrizier, die kein standesgemäßes Gewand trugen.
Tonio starrte geradeaus. Das reizende junge Mädchen kam in sein Blickfeld. Die Kleine trat mit dem Weintablett direkt auf ihn zu und kaute dabei im Takt zu ihrem Hüftschwung ein kleines Stück Toffee. Ein natürliches und gutgelauntes Lächeln lag dabei auf ihren Lippen. Als sie die Becher abstellte, beugte sie sich so weit herunter, daß er unter den weichen Rüschen ihrer tief ausgeschnittenen Bluse ihre beiden rosa Brustwarzen sehen konnte! Heftige Leidenschaft wallte in ihm auf. Zu jedem anderen Augenblick, zu jeder anderen Zeit... aber es war, als geschähe dies alles nicht einmal: ihre Hüften, die erlesene Nacktheit ihrer Arme und jene hübschen, hübschen Augen.
Sie war nicht älter als er selbst, vermutete er, und hatte etwas an sich, das den Eindruck vermittelte, als könnte sie trotz all ihres verführerischen Reizes jederzeit loskichern.
»Und warum sollte er sich so etwas Törichtes ausdenken!«
schimpfte Angelo weiter.
»Ach, reden wir nicht mehr davon, meinen Sie nicht auch!«
sagte Alessandro sanft. Dann schlug er die englische Zeitung auf und fragte Angelo, ob er als Kirchenmann etwas für die Oper übrig habe.
»So eine Niedertracht«, murmelte Angelo. »Tonio«, sagte er dann und vergaß dabei die korrekte Anrede, wie er das oft tat, wenn sie allein waren, »du hast diesen Mann doch nicht gekannt, oder?«
Tonio starrte in sein Glas Wein. Er wollte trinken, aber es war ihm nicht möglich, sich zu bewegen.
Zum ersten Mal hob er jetzt den Blick und sah Alessandro an.
Seine Stimme hörte sich leise und teilnahmslos an, als er fragte:
»Habe ich einen Bruder in Konstantinopel?«
9
Es war nach Mitternacht. Tonio stand in der riesigen, feuchten Höhlung des Großen Salons. In der Ferne schlugen zwei Dutzend Kirchenglocken die Stunde. Er hielt eine Kerze in der Hand, die er jedoch nicht anzündete, und wartete. Worauf?
Darauf, daß die Glocken zu schlagen aufhörten? Er war sich nicht sicher.
Der Abend war bis zu diesem Augenblick eine einzige Qual für ihn gewesen.
Er konnte sich nicht einmal mehr richtig an das erinnern, was geschehen war. Zwei Dinge, die allerdings nichts miteinander zu tun hatten, hatten sich jedoch in sein Gedächtnis einge-brannt.
Das erste war das junge Mädchen in dem Café, das ihn, als er aufgestanden war, leicht gestreift und ihm auf Zehenspitzen zugeflüstert hatte: »Denken Sie an mich, Exzellenz, mein Na-me ist Bettina.« Ein helles Lachen, ein hübsches Lachen.
Mädchenhaft, verlegen und absolut aufrichtig. Er hätte sie gern in die Backe gekniffen und geküßt.
Das zweite war, daß Alessandro seine Frage nicht beantwortet hatte. Alessandro hatte es nicht bestritten! Alessandro hatte lediglich weggesehen.
Und was den Mann anging, den Angelo vielleicht dutzendmal einen gefährlichen jungen Irren geschimpft hatte, er war tatsächlich Tonios Cousin. Tonio erinnerte sich jetzt wieder an ihn. Und daß sich so jemand derart irrte, war praktisch unmöglich!
Was aber war es, das ihn in erster Linie beunruhigte? War es die Tatsache, daß er das kaum greifbare, dunkle Gefühl hatte, etwas wiederzuerkennen? Carlo. Er hatte diesen Namen schon einmal gehört. Carlo! Da war jemand gewesen, der gesagt hatte »Carlo wie aus dem Gesicht geschnitten«. Aber wessen Stimme war das gewesen, und woher war sie gekommen? Und wie konnte es sein, daß er vierzehn Jahre alt geworden war, ohne überhaupt zu wissen, daß er einen Bruder hatte? Warum hatte ihm das niemand gesagt? Warum wußten nicht einmal seine Hauslehrer davon?
Aber Alessandro wußte es.
Alessandro wußte es und andere wußten es. Leute in dem Buchgeschäft wußten es!
Und vielleicht wußte es sogar Lena. Deshalb hatte sie so mürrisch reagiert, als er sie gefragt hatte.
Er hatte schlau sein wollen. Er wäre nur ins Zimmer gekommen, um nach seiner Mutter zu sehen, hatte er erklärt. Seine Mutter sah aus wie der Tod persönlich. Die zarte Haut unter ihren Augen war blau,
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