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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Abstände war eigentümlich. Philippe stand nicht direkt neben seinem Vater. Der dunkle Hintergrund bildete dort eine Kluft, wo Andreas rotes Gewand auf ziemlich unelegante Weise hineinragte, was seine linke Seite deutlich breiter machte als seine rechte.
    »Aber das ist nicht möglich. Es ist nicht wahrscheinlich«, flü-
    sterte Tonio. Doch als er näher heranging, verstärkte sich der Eindruck der Unausgewogenheit noch.
    Andreas Gewand hatte links nicht einmal dieselbe Farbe! Au-
    ßerdem wirkte der schwarze Bereich zwischen seinem Arm und dem seines Sohnes Philippe irgendwie durchlässig.
    Zögernd, fast widerwillig, hob Tonio die Kerze und stellte sich auf Zehenspitzen, so daß er die Bildoberfläche genauer betrachten konnte.
    Hinter der schwarzen Farbschicht, durch sie hindurchspähend wie durch einen Schleier, befand sich unverkennbar die Gestalt jenes einen Menschen, der genau so aussah wie er.
    Fast hätte Tonio laut aufgeschrien. Seine Beine zitterten so heftig, daß er sich wieder flach auf die Füße stellen mußte.
    Selbst jetzt noch mußte er sich mit der linken Hand an der Wand abstützen. Dann kniff er abermals die Augen zusammen: Da war sie, eine Gestalt, die durch die Übermalung durchschlug, wie das bei einem Ölgemälde oft der Fall ist.
    Jahrelang zeigt sich nichts. Dann aber beginnt die Gestalt auf fast geisterhafte Weise wieder an die Oberfläche zu kommen.
    Genau das geschah jetzt auch. Da war der Mann mit diesem sympathischen Gesicht, das dem von Tonio so ähnlich sah, und in der Unterwelt, in der er lebte, hatte sein Vater einen gespenstischen Arm um ihn gelegt, umarmte er ihn.

    10

    Als er am nächsten Nachmittag nach Hause kam, fragte seine Mutter nach ihm.
    »Sie ist aufgewacht, als du unterwegs warst«, flüsterte ihm Lena an der Tür zu. »Sie war wütend. Sie hat ihre Parfüm-fläschchen zerbrochen und mit Gegenständen um sich geworfen. Sogar mir hat sie etwas hinterhergeworfen. Sie wollte dich bei sich haben, du aber bist draußen auf der Piazza spazie-rengegangen.«
    Er hörte sich das Ganze an, ohne ihr richtig zuzuhören.
    Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Dieser Bruder ist am Leben. Er hält sich in Konstantinopel auf. Und was immer er getan hat, um aus diesem Haus fortgeschickt zu werden, es war so schrecklich, daß man sein Bild wie seinen Namen ausgelöscht hat. Ich bin also nicht der letzte dieser Linie. Er ist auch noch da, das haben wir beide gemeinsam. Aber warum hat er denn nicht geheiratet? Was hatte er so Schreckliches getan, daß die Treschi auf ein kleines Kind in der Wiege warten mußten?
    »Geh hinein und sprich mit ihr. Es geht ihr heute besser«, sagte Lena. »Rede mit ihr, versuch sie dazu zu bringen, daß sie aufsteht, badet und sich anzieht.«
    »Ja, ja«, murmelte er. »Ist gut, mache ich nachher.«
    »Nein, Tonio, geh sofort zu ihr rein.«
    »Laß mich in Ruhe, Lena«, sagte er leise, blieb aber stehen und starrte durch die offene Tür in das in Schatten getauchte Zimmer.
    »Also gut... aber warte, ich muß dir noch etwas sagen«, flü-
    sterte Lena plötzlich.
    »Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte Tonio.
    »Frag sie nicht nach diesem anderen... diesem anderen, den du gestern erwähnt hast, hast du mich verstanden?«
    Es war, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Eine Weile lang sah er sie unverwandt an. Er forschte in ihrem einfachen Gesicht, das vom Alter ganz faltig und farblos geworden war. Ihr Augen waren klein und ausdrucklos, aber ohne die Offenheit, die Beppos Augen besaßen. Im Gegenteil, sie waren verschlossen und hart wie runde Kieselsteine.
    Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Es hatte ihn im Grunde schon seit zwei Tagen begleitet, aber erst jetzt wurde es ihm so richtig bewußt. Es hatte etwas mit Angst zu tun, mit Geheimnissen, mit irgendeinem dunklen Verdacht in seiner Kindheit, es hatte mit Dingen zu tun, über die man in diesem Haus nicht sprach, mit einer langsam stärker werdenden Ahnung, die die Jugend seiner Mutter und das hohe Alter seines Vaters betraf und die Tatsache, daß seine Mutter stets so unglücklich war. Er wußte nicht, was das alles zu bedeuten hatte, befürchtete aber, daß das alles irgendwie miteinander in Verbindung stand. Vielleicht aber wäre es ebenso schrecklich gewesen, wenn es nicht miteinander in Verbindung stehen würde.
    Nun, er konnte nicht anders. Er mußte die Antwort finden. Irgendeine einfache Antwort darauf, warum er sein ganzes Leben lang geglaubt hatte, er wäre der einzige, warum er

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