Falsetto
auf ihrem Gesicht lag eine schreckliche Blässe. Lena hatte gesagt, er solle gehen, sie würde später versuchen, ihre Herrin dazu zu bewegen, ein Weilchen aufzustehen. Was hatte er gefragt? Wie hatte er es formuliert? Er hatte sich plötzlich so gedemütigt gefühlt, so unglaublich elend. »Hat irgend jemand hier... schon einmal... den Namen...
Carlo gehört.«
»Es gab Hunderte von Treschi vor meiner Zeit, jetzt geh schon.« Die Antwort hätte ihm durchaus genügt, wenn sie nicht hinter ihm hergekommen wäre. »Und laß bloß deine Mutter mit diesen anderen zufrieden«, hatte sie gesagt und damit natürlich Andreas verstorbene Söhne gemeint. Seine Mutter sah sich ihre Portraits niemals an. »Und stell auch niemand anderem irgendwelche dummen Fragen!«
Damit hatte sie einen Fehler gemacht. Sie wußte es. Natürlich wußte sie es.
Jetzt waren alle zu Bett gegangen. Das Haus gehörte ihm und ihm ganz allein, so wie das zu dieser Stunde stets der Fall war. In der Dunkelheit fühlte er sich unsichtbar und unbeschwert. Er wollte die Kerze gar nicht anzünden, schon das Echo seiner leisen Schritte war ihm zu laut.
Eine Weile stand er ganz still und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er den Zorn seines Vaters auf sich ziehen würde. Niemals war sein Vater böse auf ihn gewesen. Niemals.
Aber er konnte diese Vorstellung nicht ertragen. Als er die Kerze anzündete, stand er mit angehaltenem Atem da und sah zu, wie die Flamme größer wurde und ein schwaches Licht das riesige Zimmer erhellte. Der Raum war so weitläufig, daß sich an seinen Rändern noch düstere Schatten ausbreiteten.
Aber er konnte die Bilder sehen.
Sofort machte er sich daran, sie zu untersuchen.
Da waren sein Bruder Leonardo, ja, und Giambattista in Uniform, ja, und das hier war ein Bild von Philippo mit seiner jungen Frau Theresa. Er kannte sie alle. Jetzt kam er zu jenem Gesicht, nach dem er gesucht hatte. Als er es wiedersah, da erschreckte ihn die Ähnlichkeit.
»Carlo wie aus dem Gesicht geschnitten ...« Die Worte dröhnten ihm regelrecht in den Ohren. Er hielt die Flamme ganz nahe an die Leinwand heran, bewegte sie vor und zurück, bis das Bild seine irritierende Spiegelung verlor. Dieser junge Mann hatte dichtes schwarzes Haar wie er; wie er besaß er eine hohe, breite Stirn ohne die leichteste Neigung nach hinten; er hatte denselben, ein wenig breiten Mund, dieselben hohen Wangenknochen. Das Besondere aber, das, was dieses Gesicht aus der Menge der Gesichter, die alle eine gewisse Familienähnlichkeit aufwiesen, heraushob, waren die Augen: Sie standen weit, ganz weit auseinander, so wie die von Tonio. Wenn jemand in diese großen und schwarzen Augen blickte, dann hatte er das Gefühl zu schweben.
»Aber wer bist du?« flüsterte er. Er ging von einem Gesicht zum anderen. Da waren einige Cousins, die er nicht kannte.
»Das beweist nichts.« Allerdings war es nicht zu übersehen, daß dieser merkwürdige Doppelgänger direkt neben Andrea stand, genaugenommen stand er zwischen Leonardo und Andrea, und daß Andreas Hand auf der Schulter dieses Doubles ruhte!
»Nein, das ist nicht möglich«, flüsterte er. Dennoch war das exakt der Beweis, den er gesucht hatte. Er ging weiter zu den anderen Bildern. Hier war Chiara, Andreas erste Frau, und dort war wieder dieser kleine »Tonio«, der mit den anderen Brüdern zu ihren Füßen saß.
Aber es gab Beweise, die noch eindeutiger waren.
Das erkannte er, während er wie angewurzelt vor den Gemälden stand. Es gab nämlich Bilder, auf denen nur die Brüder mit ihren Eltern zu sehen waren, ohne Cousins, ohne Fremde.
So rasch und so leise wie er konnte, ging er zur Tür, die zum Speisezimmer führte, und öffnete sie.
Dort hing, direkt hinter dem oberen Ende der Tafel, das große Bild, auf dem die gesamte Familie versammelt war, das Bild, das ihn immer so gequält hatte. Selbst von der Tür aus konnte er sehen, daß darauf kein Carlo zu sehen war. Er fühlte sich plötzlich ganz schwach und wußte nicht, ob dieses Gefühl Erleichterung oder Enttäuschung war.
Dennoch kam ihm an dem Bild irgend etwas merkwürdig vor.
Rechts von Andrea, der stand, und seiner verstorbenen Frau Chiara, die saß, befanden sich Leonardo und Giambattista.
Philippo stand ganz allein auf der rechten Seite.
»Aber das ist doch durchaus normal«, flüsterte er. »Immerhin sind es nur drei Brüder, wie soll man es denn sonst machen, als zwei auf der einen Seite zu plazieren...« Aber die Eintei-lung der
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