Falsetto
begannen sie alle wie aus einem Guß mit der Einleitung zur Arie.
Tonio, so gelassen wie zuvor, den Blick nicht auf das Publikum vor sich gerichtet, sondern auf den meisterhaften Sänger auf der Bühne, öffnete den Mund und ließ, wie immer genau den Ton treffend, den ersten goldenen Melodiestrom frei.
Langsam, langsam, dachte Guido. Tonio ging jetzt zum zweiten Teil über, in dem sich die komplizierteren Passagen befanden, die er mühelos und kontrolliert ausführte, bis er dann mit seinen wirklichen Verzierungen begann.
Guido hatte gedacht, daß Tonio für diesen Auftritt bereit war, aber er berichtigte sich sofort: Tonio hatte genau jenes Tremolo gewählt, das Bettichino in so vollkommener Weise vorgeführt hatte, und hielt es jetzt im rhythmischen Tempo von Bettichinos Arie aus, obwohl dieser Wechsel für alle anderen nicht zu erkennen gewesen wäre. Das Tremolo war klar, strahlend und wurde immer kräftiger, während Tonio es an- und abschwellen ließ. Er führte beide von Bettichinos Kunststükken gleichzeitig und mit Vollendung aus, aber er sang und sang. Der Ton erstreckte sich in die Unendlichkeit. Guido selbst stockte der Atem. Er bekam eine Gänsehaut, als er sah, daß Tonio ganz leicht den Kopf hob und dann ohne Unterbrechung mit einer exquisiten Passage begann, die er immer weiter hinaufführte, bis er bei eben demselben Ton angelangt war, nur eine Oktave höher.
Langsam, ganz langsam ließ er ihn anschwellen, langsam ließ er ihn aus seiner Kehle pulsieren. Dies ging an die absoluten Grenzen der menschlichen Stimme, dennoch klang es samtweich und glatt, schien ein überaus liebreizender und kum-mervoller Seufzer zu sein, der sich da ohne Ende seiner Kehle entrang, bis man es schier nicht mehr ertragen konnte.
Falls er jetzt atmete, dann sah es niemand, hörte es niemand.
Zu erkennen war nur, daß er wieder jenes matte Tempo von vorhin angeschlagen hatte und sanft von Traurigkeit und Schmerz sang, allerdings sang er jetzt tiefer, mit dem vollen, satten Timbre eines Alt, in dem er jetzt auch schloß. Den Kopf leicht zurückgeworfen, verharrte er bewegungslos.
Guido neigte den Kopf. Der Boden unter seinen Füßen erbeb-te von dem ohrenbetäubenden Tosen, das sich nun überall erhob. Kein Lärm des Pöbels kam dem Geräusch gleich, das diese zweitausend Männer und Frauen jetzt machten, als sie mit donnerndem Applaus ihrer Begeisterung Ausdruck verliehen. Dennoch wartete Guido, wartete, bis er überall aus dem Parkett jene Stimmen hörte, die er hören wollte: Die abbati selbst riefen »Bravo, Tonio! Bravo, Tonio!«, und dann hörte er, gerade als er sich, getragen von diesem herrlichen Siegesge-fühl, einredete, es sei ihm egal, daß ihn niemand beachtete, von allen Seiten einen weiteren Ruf: »Bravo, Guido Maffeo!«
Einmal, zweimal, Hunderte von Malen hörte er diese beiden Rufe, die sich miteinander vermischten. Als er dann, kurz bevor er sich erhob, um sich für den Beifall zu bedanken, zur Bühne hochblickte, sah er Tonio dort so reglos wie zuvor dastehen. Seinen Blick hatte er auf Bettichino gerichtet.
Bettichinos Augen waren schmal, sein Gesicht abweisend.
Dann zeigte sich langsam ein breites Lächeln auf seinen Lippen, und er nickte. Und als das geschah, schien es, als würde das Publikum seinen tosenden Beifall noch verstärken.
15
Es war nach Mitternacht. Das Theater hallte noch von den Schritten der Zuschauer wider, die dem Ausgang zuströmten, vom Lachen und Rufen derjenigen, die die stockdunklen Treppenhäuser hinunterstiegen.
Tonio schlug die Tür seiner Garderobe zu und schob rasch den Riegel vor. Er nahm den vergoldeten Papphelm ab und starrte, den Kopf gegen die Tür gelehnt, Signora Bianchi an.
Es dauerte nicht lange, und schon klopfte es an der Tür, dann wurde daran gerüttelt.
Er stand da und rang nach Atem. Plötzlich wurde ihm bewußt, wie erschöpft er war. Vier Stunden lang hatten er und Bettichino miteinander gewetteifert, jede Arie war ein neuer Wettstreit gewesen, jede Wiederholung voller neuer Triumphe und Über-raschungen. Er konnte noch nicht ganz glauben, daß das passiert war. Er hätte gern von anderen bestätigt bekommen, daß es tatsächlich so gewesen war, wie er es empfunden hatte, gleichzeitig aber konnte er niemanden in seiner Nähe ertragen. Er wollte allein sein. Plötzlich merkte er, wie Schlaf ihn zu übermannen drohte, ihn aus dem Zimmer tragen wollte, weg von all jenen, die dort draußen vor der Tür lärmten und ins Zimmer zu gelangen
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