Falsetto
jene hinreißende junge Frau mit völlig unbeweg-tem Gesicht an die Rampenlichter, als könne sie nichts erschüttern.
Von der Galerie kamen wie zuvor schon die ersten Schmährufe, dann aber stimmte auch das Parkett ein.
»Geh zurück zu deinen Kanälen!« schrien sie. »Du hast neben einem Sänger auf einer Bühne nichts zu suchen!«
Aber die abbati, die das in Zorn versetzte, schleuderten ihnen nun ihrerseits Beschimpfungen entgegen. »Laßt den Jungen singen! Habt ihr Angst, daß er euren Liebling in den Schatten stellt?« Es herrschte Krieg, und schon flogen die ersten Geschosse von oben herab, verfaulte Birnen und angebissene Äpfel. Zwischen den Sitzreihen tauchte Polizei auf. Einen Augenblick herrschte Stille, dann brach nur noch lauter Tumult los.
Guido hielt inne, schlug mit den Händen flach auf die Tasten.
Er wollte sich schon von seiner Bank erheben, als er plötzlich sah, wie Tonio sich zu ihm umdrehte und ihm mit einer entschiedenen Geste bedeutete, er solle sich nicht aufregen.
Dann kam ein kurzes Nicken: mach weiter.
Guido spielte weiter, obwohl er die Töne, die er anschlug, nicht hören konnte. Einen Augenblick lang setzten auch die Geigen wieder ein, wodurch die Rufe weniger deutlich zu hö-
ren waren. Allerdings hatte das zur Folge, daß die Zuschauer jetzt noch lauter brüllten.
Tonios Stimme erhob sich ebenfalls. Nichts hatte ihn aus der Fassung gebracht. Er sang seine ersten Passagen jetzt mit ebenjener Überzeugungskraft und Schönheit, von der Guido geträumt hatte. Guido war den Tränen nahe.
Dann plötzlich hallte der ganze Zuschauerraum von einem unglaublichen Lärm wider!
Jemand hatte einen Hund losgelassen, und dieser stürmte jetzt jaulend und mit wildem Gebell auf das Orchester zu.
Der gesamte erste Rang schien sich in empörtem Aufruhr zu befinden. Kardinal Calvino signalisierte wütend, man solle ruhig sein.
Guido hatte zu spielen aufgehört.
Das Orchester hatte zu spielen aufgehört. Die abbati verfluch-ten den Hund, und jetzt strömte Polizei auf die Galerie und ins Parkett. Es gab ein wildes Handgemenge und großes Geschrei, als ein Dutzend Missetäter aus dem Saal geschleift wurden, damit sie ausgepeitscht werden konnten, bevor man sie wieder ins Theater zurückbrachte.
Guido saß vollkommen reglos auf seiner Bank und starrte geradeaus. Er wußte, daß das Theater in wenigen Sekunden leer sein würde, und zwar nicht, weil es von irgendwelchen Behörden geräumt worden war, sondern weil sich die Zuschauer den Herren und Damen vom ersten Rang anschlie-
ßen würden, die geschlossen das Haus verlassen würden, damit sich der Pöbel austoben konnte. Guido war ganz schlecht. Er war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Das Geschrei der abbati toste in seinen Ohren. Durch einen Schleier bitterer Tränen blickte er zu jenen hufeisenförmigen Reihen voll erzürnter Gesichter auf.
Doch da geschah irgend etwas. Es trat irgendeine Veränderung ein. Der Hund jaulte noch ein letztes Mal durchdringend auf, während er davongezerrt wurde, dann verdrängte plötzlich eine Flut gesitteten Klatschens die Buhrufe, das Trampeln und das Gelächter.
Bettichino war auf die Bühne zurückgekehrt. Mit erhobenen Händen bat er um Ruhe.
Sein Gesicht war wutverzerrt und rot bis zum blonden Haaransatz. Er rief mit lauter Stimme:
»Ruhe!«
Ein zustimmendes Raunen erhob sich ringsum und übertönte das letzte Gejohle und Fluchen.
»Laßt den Jungen singen!« rief Bettichino.
Sofort signalisierte der erste Rang seine Zustimmung mit lautem Applaus. Als sich die abbati geschlossen wieder setzten, ihre Partituren zur Hand nahmen und ihre Kerzen zurechtrückten, ließen sich auch alle anderen wieder auf die Plätze nieder.
Bettichino stand da und funkelte die Zuschauer wütend an.
Das Publikum war absolut still.
Dann setzte Bettichino, während er sich den Umhang über die Schulter warf, eine friedlichere Miene auf und drehte sich langsam zu Tonio um. Das unschuldigste Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wies mit seiner Hand auf Tonio, er verbeugte sich vor ihm.
Guido starrte Tonio sprachlos an, während dieser nun ganz allein in der Leere aus gnadenlosem Licht und vollkommener Stille dastand.
Bettichino verschränkte die Hände hinter dem Rücken und nahm die Haltung eines Menschen ein, der wartet.
Guido schloß die Augen: Mit einem entschiedenen Nicken breitete er die Hände aus, hörte dabei, wie die Musiker um ihn herum mit ihren Notenblättern raschelten, dann
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