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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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kindlichen Leidenschaft, packte ihn insgeheim der Zorn.
    Sobald er in den Korridor hinaustrat, sah er Raffaeles Männer.
    Das waren keine Bediensteten. Es waren die Bravos des Grafen.
    »Signore, Seine Exzellenz wünscht Sie zu sehen...«
    »Ja, aber heute abend geht es nicht«, sagte Tonio rasch und wollte auf die Straße hinaustreten.
    Einen Augenblick lang schien es, als würden die Männer ihn nicht vorbeilassen.
    Als Tonio jedoch in seine eigene Kutsche kletterte, sah er, daß sie ihre Pferde bestiegen hatten. Er sagte seinem Kutscher, er solle zur Piazzadi Spagna fahren, und überlegte, was er tun konnte.
    Am Palazzo Sanfredo ließ er die Kutsche dann so langsam fahren, daß sie nur noch dahinschlich. An der zweiten Gasse hinter dem Palazzo , die kleine Kutsche schabte fast an der Mauer entlang, schlüpfte Tonio hinaus, schloß rasch die Tür und blieb in der Dunkelheit stehen, um zuzusehen, wie die Bravos des Grafen vorbeiritten.

    Jetzt war der Augenblick gekommen.
    Er trat durch die untere Tür des Palazzos ein und blieb stehen, als er eine Fackel am Treppenabsatz brennen sah. Er blickte nach oben. Das Treppenhaus hätte auch eine Straße sein können, so vernachlässigt, so kalt war es. Während er hinauf-starrte, verbannte er alle Gedanken aus seinem Kopf.

    Die Tür zu ihrem Atelier stand offen, und das erste, was er sah, war das Firmament, ein Himmel aus reiner Schwärze und darin strahlende Sterne.
    Der Raum selbst war riesig, kahl und unbeleuchtet. Vor sich und zu seiner Rechten befanden sich große, hohe Fenster.
    Eine breite, schräge Glasscheibe, die in die Decke eingelas-sen war, ließ noch mehr von der Nacht hinein.
    Seine Schritte klangen hohl. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren. Es kam ihm so vor, als würde sich der Himmel über diesem luftigen Aussichtspunkt inmitten von Rom zu bewegen anfangen. Vielleicht hatte man auf einem schlingernden Schiff dasselbe Gefühl.
    Die Sterne hingegen waren wunderbar. Er konnte die Sternbil-der in herrlicher Klarheit erkennen. Da atmete er tief die kühle, frische Luft ein, die ihn rings umgab, und drehte sich ganz langsam um, so als hätte er nichts auf der Welt zu fürchten.
    Plötzlich fühlte er sich klein und ganz frei.
    Erst jetzt nahm er Gegenstände in dem Raum wahr, einen Tisch, Stühle und Gemälde, die auf ihren Staffeleien standen und auf denen dunkle Gestalten vor einem weißen Hintergrund zu sehen waren, unzählige Flaschen und Krüge. Der Geruch von Terpentin drang mit einem Mal durch den satte-ren, angenehmeren Geruch von Ölfarbe.
    Dann sah er sie, Christina, eingehüllt in Schatten. Sie stand in der hintersten Fensterecke, den Kopf von den losen Falten einer Kapuze bedeckt.
    Angst packte ihn, raubte ihm die Kraft wie noch nie zuvor. Alle Schwierigkeiten, die er sich vorgestellt hatte, fielen ihm jetzt wieder ein und quälten ihn: Was sollte er zu ihr sagen, wie sollte er es anfangen, und was würde zwischen ihnen geschehen, was war selbstverständlich, warum waren sie beide hier?
    Er spürte, wie seine Glieder zitterten, und neigte, froh darüber, daß es so dunkel war, den Kopf. Kummer drang in dieses ho-he, offene Zimmer, Kummer machte es klein und löschte die Nacht selbst aus. Es schien ihm, als wäre dieses Mädchen viel zu unschuldig, und die Erinnerung an ihre Schönheit formte in seinem Bewußtsein ein fast ätherisches Bild von ihr.
    In Wirklichkeit jedoch kam eine dunkle, geheimnisvolle Gestalt auf ihn zu und nannte seinen Namen.
    »Tonio«, sagte sie, so als würde sie beide bereits eine gewisse Vertrautheit miteinander verbinden. Er stellte fest, daß er seine eigenen Lippen berührte, als er sie mit klingender und fast süßer Stimme sprechen hörte.
    Jetzt konnte er unter der Kapuze ihr Gesicht sehen. Die Kapuze selbst jedoch ließ in ihm Entsetzen hochsteigen, erinnerte ihn an jene Mönche, die stets die zum Tode Verurteilten zum Schafott begleiteten. Er streckte die Hand aus, schloß dabei den Abgrund, der zwischen ihnen beiden klaffte, und streifte die Kapuze zurück.
    Sie rührte sich nicht. Sie hatte keine Angst! Nicht einmal, als er seine Finger in die steifen Wellen ihres Haares schob, die zusammengebundenen Strähnen auseinanderstrich und ihren Hinterkopf in die Hände nahm. Sie kam näher.
    Plötzlich stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schmiegte sich mit ihrem ganzen jungen Körper, den er unter der Hülle aus feiner Wolle und Spitze spüren konnte, an ihn. Er spürte, wie weich

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