Falsetto
Muse-en, die Burgen in den deutschen Ländern mit ihrer Vielzahl von Türmen und Türmchen. Tonio, hast du jemals die Kathedralen im Norden mit ihren bunten Glasfenstern gesehen?
Stell dir vor, eine Kirche aus Stein anstatt aus Marmor, mit Gewölbebögen, die bis in den Himmel zu reichen scheinen, und dann all diese kleinen farbigen Glasstückchen, die zu Engeln und Heiligen zusammengesetzt sind. Denk dir nur, Tonio, St. Petersburg im Winter, eine Stadt, die Venedig nachgebildet ist und mit herrlichem weißen Schnee bedeckt...«
Ihre Stimme klang ruhig, und in ihren Augen lag ein verträumter Glanz. Ohne ihr etwas zu antworten, drückte er ihre Hand, so als wolle er sagen: Rede weiter.
Guido hatte ihm diese letzten glückseligen Stunden nicht wirklich genommen. Vielmehr hatte die Tatsache, daß er jetzt alles so deutlich verstand, eine gespenstische Schönheit an sich.
»Wir würden ganz Europa bereisen, wir vier«, sagte sie gerade. »Du, Guido, Paolo und ich. Wir würden uns eine prächtige Reisekutsche kaufen, und wir würden sogar die böse alte Signora Bianchi mitnehmen. Vielleicht würde Guido auch den hübschen Marcello mitkommen lassen. In jeder Stadt würden wir in einer luxuriösen Unterkunft wohnen, wir würden unsere Mahlzeiten zusammen einnehmen, miteinander streiten und gemeinsam zum Theater gehen. Tagsüber würde ich malen, und am Abend würdest du singen. Und wenn uns irgendeine Stadt besser gefiele als die anderen, dann würden wir dort bleiben. Hier und da würden wir vielleicht hinaus aufs Land fahren, um allein zu sein und dem ganzen Trubel zu entkommen, und wir würden einander immer mehr lieben und verstehen. Stell dir das nur vor, Tonio. Wir würden die Villa nehmen, die ich dir vor einem Monat gezeigt habe, und sie würde unser wirkliches Zuhause sein. Wir würden zurückkehren, wenn wir es müde sind, immer nur fremde Sprachen um uns herum zu hören. Wie schön uns dann Italien erscheinen würde! Oh, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das sein würde! Guido wür-de am Abend Sonaten komponieren, und Paolo würde zu einem wunderbaren Sänger heranwachsen. Er würde in Rom sein Debüt geben.
Aber wir würden alle zusammengehören, ganz gleich, was auch geschähe. Wir würden füreinander dasein, so als wären wir eine große Familie. Ich habe tausendmal davon geträumt«, sagte sie. »Und wenn sich schon mein Märchentraum erfüllt hat und ich dich bekommen habe, dann kann auch alles andere wahr werden.
Weißt du noch, was du damals zu Paolo gesagt hast, als du ihn nach Rom mitgenommen hast?« Sie hielt inne, beobachtete ihn dabei gespannt. »Paolo hat es mir selbst erzählt: Du hast zu ihm gesagt, alles ist möglich, wenn man es am wenigsten erwartet. Und sein Leben ist jetzt wie ein Märchen, das wahr geworden ist, voller Paläste, Reichtümer und endlosem Gesang. Tonio, alles ist möglich, das hast du selbst gesagt.«
»Das ist einfältig«, sagte er. Er beugte sich vor, um sie zu küssen. Er streichelte ihr Gesicht, staunte dabei über den unbeschreiblich weichen und fast unsichtbaren Flaum, der ihre Wangen bedeckte, und berührte mit der Spitze seines Zeigefingers ihre Lippen. Sie hätte nicht schöner sein können, als sie es jetzt war.
»Nein, nicht einfältig«, protestierte sie. »Tonio, das ist meine freie Wahl.«
»Hör mir zu, meine Schöne«, sagte er beinahe scharf. Seine Stimme war ein wenig härter, als er es gewollt hatte. »Du liebst mich fast auf dieselbe Weise, wie ich dich liebe. Aber du hast nie erfahren, wie richtige Männer lieben, du kennst nicht ihre Kraft, ihr Feuer. Du sprichst von den Kathedralen des Nordens, von Stein und bunten Glasfenstern, von anderen Arten der Schönheit. Nun, ich kann dir sagen, daß es bei den Männern genauso ist, es ist eine andere Art der Liebe. Und mit der Zeit wirst du zu der Erkenntnis gelangen, daß ein ganz gewöhnlicher Akt, den andere als selbstverständlich nehmen, Geheimnisse für dich birgt, da du die gewöhnliche Stärke eines Mannes nicht erfahren hast. Begreifst du denn nicht, daß uns beiden letztlich genau das genommen wurde, daß es mir genommen wurde?
Was glaubst du, bedeutet es für mich, zu wissen, daß ich dir niemals geben kann, was jeder gewöhnliche Arbeiter dir geben könnte, den Funken des Lebens, das Kind, in dem wir beide eins sein würden? Ganz gleich, wie sehr du jetzt beteu-erst, daß du mich liebst, so kannst du doch nicht behaupten, daß der Tag, an dem du mich genau als das sehen wirst, was
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