Falsetto
träumte, wo er einen Augenblick lang durchat-men konnte, um dann wieder mit ihr zu turteln, wie er das inmitten all dieser beinahe verzweifelten Karnevalsfröhlichkeit schon den ganzen Tag über getan hatte.
Heute abend würde die Vorstellung so kurz sein, daß sie, wenn die Uhr zwölf schlug und den Aschermittwoch einläutete, auch beendet sein würde. Im Augenblick jedoch interessierte ihn nichts anderes als der sternenhelle Himmel über ihm, dieses große Meer kleiner Flammen und das Flüstern, das ihn einhüllte. Tod dir, Tod dir, Tod dir. Seine Flamme war erloschen, ebenso die von Christina. Christina war erschrocken, aber in diesem Augenblick stolperte er im Gedränge und fiel gegen sie. Da drückte er seinen Mund auf den ihren und küßte sie leidenschaftlich, ohne sich darum zu kümmern, daß ihre Kerzen ausgegangen waren. Die Menschenmenge schien sie beide hochzuheben und davonzutragen. Es war, als würden sie im Meer auf sandigem Grund stehen, sich gegen die Strö-
mung lehnen und sich von ihr stützen lassen.
»Geben Sie mir Ihre Flamme.« Christina hatte sich mit dieser Bitte an einen hochgewachsenen Mann gewandt, der neben ihr stand, dann zündete sie Tonios Kerze wieder an.
Ihr kleines Gesicht sah, von unten beleuchtet, gespenstisch aus, ihre widerspenstigen Haarsträhnen glühten golden. Sie legte ihre Hand auf seine Brust, hielt ihre Kerze dabei an die seine, so daß er mit seinen Händen beide Kerzen abschirmen konnte.
Schließlich war es Zeit zu gehen. Die Menge zerstreute sich, die Kinder machten sich immer noch einen Spaß daraus, die Kerzen ihrer Eltern auszublasen und sie mit dem Fluch zu ver-spotten, den die Eltern prompt zurückgaben. Langsam verebbte das tolle Treiben in den Straßen. Tonio stand ruhig da, wollte sich nicht rühren, wollte diesen letzten Überrest des Karnevals nicht hinter sich lassen, nicht einmal für die letzten Augenblicke der Ekstase im Theater.
Immer noch waren alle Fenster erleuchtet, Laternen hingen über der Straße, und die Kutschen, die vorbeifuhren, waren mit Lichtern ausgestattet.
»Tonio, wir haben noch ein bißchen Zeit...«, flüsterte Christina.
Es war so leicht, ihre kleine Hand gegen ihren Willen festzuhalten. Sie versuchte, ihn weiterzuziehen. Er rührte sich nicht.
Sie stellte sich auf Zehenspitzen und legte ihm die Hand auf den Nacken. »Tonio, träumst du...«
»Ja«, murmelte er, »von einem ewigen Leben...«
Aber er folgte ihr zur Via Condotti. Sie tanzte fast vor ihm her, zog ihn mit sich, als wäre sein langer Arm eine Hundeleine.
Ein kleines Kind kam auf sie zugeschossen und zischte. »Sia ammazzato -« Tonio jedoch riß seinen Arm mit einem trotzigen Lächeln in die Höhe und rettete seine Flamme.
Was dann geschah, passierte so rasch, daß er es hinterher nicht mehr rekonstruieren konnte. Plötzlich war eine Gestalt, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, vor ihm aufgetaucht:
»Tod dir!« Christina hatte ihn losgelassen, er verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts. Sie schrie auf.
Er hatte gerade sein Stilett gezogen, als er die kalte Klinge eines Messers an seinem Hals spürte.
Er schlug die Hand, die dieses Messer hielt, nach oben, so daß es an seinem Gesicht vorbeistreifte, bohrte dabei gleichzeitig seine eigene Waffe in den Körper des Angreifers, der ihn gegen die Mauer zu drücken versuchte, stieß noch ein zweites und ein drittes Mal zu.
Doch gerade, als dieser zusammensackte, spürte er, daß hinter ihm ein weiterer Mann aufgetaucht war und sich plötzlich die Schlinge einer Garotte um seinen Hals zuzog.
In höchstem Entsetzen wehrte er sich, krallte sich mit der linken Hand in das Gesicht hinter sich, stieß mit dem rechten Arm nach hinten und trieb sein Stilett in die Eingeweide des Mannes.
Die Luft war erfüllt von Stampfen und Rufen, von Christinas Schreien. Er drohte zu ersticken, die Schnur schnitt ihm ins Fleisch. Dann war sie plötzlich weg.
Er drehte sich um und wollte auf seinen Angreifer losgehen, sah aber, daß dieser an beiden Armen von einem weiteren Mann festgehalten wurde, der ihm zurief: »Signore, Signore, wir stehen zu Ihren Diensten!«
Er starrte den Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte, an.
Hinter ihm standen Raffaeles Bravos, jene Männer, die ihm seit Wochen schon folgten. Sie hatten Christina in ihre Mitte genommen, aber nicht, als wollten sie ihr weh tun, sondern als würden sie sie beschützen. Zu seinen Füßen lag die Leiche des Mannes, den er eben niedergestochen
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