Falsetto
einen verwirrten Blick zu.
»Ich zeige es dir«, versicherte er ihr rasch. »Du kannst sein Bild ganz klar erkennen, wenn du genau hinsiehst. Komm.«
Sie traten ins Zimmer. Die Kerze brauchten sie gar nicht. Das Sonnenlicht des Spätnachmittags strömte durch die Fenster.
Als Tonio die Stuhllehnen berührte, merkte er, daß sie ganz warm waren.
Er führte sie nahe an das Bild heran und sagte: »Schau durch die Schwärze hindurch.«
Dann hob er sie hoch, überrascht, wie leicht sie war. Sie zitterte, was ihm vorher gar nicht aufgefallen war. In der Luft schwebend, legte sie ihre Hand flach auf das Bild, die Finger arbeiteten sich dabei an die verborgene Gestalt heran, und dann sah sie es plötzlich. Er konnte spüren, wie sie zusam-menschrak, wie sie langsam alle Einzelheiten in sich aufsog, so als würde die Gestalt nun tatsächlich aus dem Hintergrund hervorbrechen.
Ein Stöhnen entrang sich ihr, fing leise an, wurde lauter und erstickte dann. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt.
Ganz plötzlich wand sie sich so heftig in seinen Armen, daß er sie rasch zu Boden gleiten ließ. Sie taumelte nach hinten.
Wieder stöhnte sie auf, ihre Augen weiteten sich.
»Mamma?« Mit einem Mal fürchtete er sich vor ihr, denn sie sah ihn mit demselben wutverzerrten Gesicht an, wie sie es so oft getan hatte, als er noch ein Kind gewesen war.
Er hob ganz instinktiv die Hände, dennoch traf ihn ihr erster Schlag mitten ins Gesicht. Der Schmerz machte ihn jedoch sofort wütend.
»Hör auf damit«, schrie er. Sie schlug ihn wieder, dann auch mit der anderen Hand, und stöhnte dabei mit zusammengebissenen Zähnen.
»Hör auf damit, Mamma, hör auf!« schrie er, während er sich die Hände vors Gesicht hielt. Er wurde immer zorniger. »Ich lasse mir das nicht länger gefallen, hör auf.«
Aber ihre Schläge prasselten weiter unbarmherzig auf ihn herab. Sie hatte jetzt zu kreischen begonnen. Noch nie in seinem Leben hatte er sie so gehaßt. Er packte sie am Handgelenk, schob sie von sich weg, spürte, wie sie nach seinem Haar griff und daran zog. »Hör endlich auf damit!« brüllte er. »Laß das!«
Dann umarmte er sie, versuchte sie so fest an seine Brust zu drücken, daß sie sich nicht mehr rühren konnte. Sie schluchzte jetzt. An ihren Nägeln war Blut. Da fiel ihm plötzlich auf, daß sich die Flügeltüren zum Großen Salon geöffnet hatten, und brennende Scham stieg in ihm auf. Er sah seinen Vater in der Tür stehen, neben ihm seinen Sekretär Signore Lemmo. Signore Lemmo zog sich zurück und verschwand.
Als Marianna, die nichts von alledem mitbekommen hatte, Tonio wieder eine Ohrfeige gab, ihn anbrüllte, ging Andrea auf sie zu. Es war sein rauschendes Gewand, die herrliche Farbe, die sie zuerst bemerkt haben mußte. Sofort verließen sie ihre Kräfte, und sie taumelte nach hinten. Andrea schloß sie langsam in seine Arme.
Tonio stand mit glühendem Gesicht hilflos daneben und sah zu. Noch nie in seinem Leben hatte er seinen Vater seine Mutter berühren sehen. Sie stand zusammengekrümmt da, so als wolle sie seine Robe nicht beflecken, so als wolle sie sich in sich selbst verkriechen, während sie hysterisch weinte.
»Meine Kinder«, flüsterte Andrea. Seine sanften, haselnuß-
braunen Augen musterten ihr lockeres Gewand, ihre bloßen Füße, dann sah er seinen Sohn langsam und traurig an.
»Ich will sterben.« Sie zitterte. »Ich will sterben...« Ihre Stimme kam tief aus ihrer Kehle. Andreas Hand berührte zart ihr Haar.
Dann spreizten sich die weißen Finger, umschlossen ihren kleinen Kopf und preßten ihn an sich.
Tonio wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Er hob den Kopf und sagte leise:
»Es ist meine Schuld, Vater.«
»Euer Exzellenz, lassen Sie mich sterben«, flüsterte sie.
»Geh hinaus, mein Sohn«, sagte Andrea freundlich. »Geh jetzt, und laß mich mit deiner Mutter allein.«
Tonio rührte sich nicht. Er starrte Marianna an, ihren schmalen Rücken, der vom Schluchzen geschüttelt wurde, ihr Haar, das seinem Vater glänzend und schwer über den Arm fiel. Er blickte seinen Vater stumm und flehentlich an.
»Geh schon, mein Sohn«, sagte Andrea mit unendlicher Geduld. Wie um Tonio zu trösten, nahm er dessen Hand und drückte sie sanft mit seinen pudrigen Fingern, bevor er ihn losließ und zur offenen Tür wies.
11
Es war jenes Stadium des Lebens, in dem Guido, wäre er ein normaler Junge gewesen, in den Stimmbruch gekommen wäre und sich sein knabenhafter Sopran zum
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