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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Taverne mieten konnte.
    Nachdem er sich eine Flasche Wein hatte bringen lassen, schnitt er sich mit einem Messer die Pulsadern auf. Dann saß er da, während das Blut floß, und trank seinen Wein, bis er das Bewußtsein verlor.
    Aber man fand ihn, bevor er starb, und brachte ihn zum Conservatorio zurück. Dort erwachte er dann mit verbundenen Handgelenken in seinem eigenen Bett, während Maestro Cavalla, sein Lehrer, neben ihm saß und weinte.

    12

    Was war geschehen? Wurde tatsächlich alles anders? Tonio hatte so lange Zeit mit der schrecklichen Ahnung gelebt, daß sich nie etwas ändern würde, daß er sich jetzt gar nicht richtig zurechtfand.
    Sein Vater hatte sich mit kurzen Unterbrechungen zwei Tage lang im Zimmer seiner Mutter aufgehalten. Ein Arzt war gekommen, und Tonio war sich sicher, seine Mutter nachts weinen gehört zu haben. Angelo, der nun nicht mehr mit ihm auf der Piazzaspazierenging, hatte jeden Morgen die Türen der Bibliothek geschlossen und gesagt: »Studiere.«
    Alessandro war im Haus. Tonio wußte das, weil er ihn flüchtig gesehen hatte. Außerdem war er sich sicher, die Stimme seiner Cousine Catrina Lisani gehört zu haben. Leute kamen, Leute gingen, doch sein Vater schickte nicht nach ihm. Sein Vater verlangte keine Erklärungen. Als Tonio zu seiner Mutter wollte, wurde er ausgesperrt, wie einst sein Vater ausgesperrt worden war. Angelo brachte ihn dann stets in die Bibliothek zurück.
    Dann hieß es, Andrea wäre gestolpert, als er in eine Gondel einsteigen wollte. Nicht einen Tag seines Lebens hatte er eine Zusammenkunft des Senats oder des Großen Rats verpaßt, aber an diesem Morgen war er gestürzt. Obwohl er sich nur den Fuß verstaucht hatte, würde er bei der Senza nicht hinter dem Dogen hergehen.
    Das Schlimmste aber war, daß er während all dieser Stunden des Wartens eine unbestreitbare Heiterkeit empfand. Es war ein Gefühl, das er schon einmal gespürt hatte: irgend etwas würde geschehen! Als er aber daran dachte, wie sie im Speisezimmer geschrien und auf ihn eingeschlagen hatte, da fühlte er sich wie ein Verräter!
    Er hatte gewollt, daß sie ertappt wurde, hatte gewollt, daß sein Vater sah, worin ihre Krankheit bestand. Man mußte ihr den Wein wegnehmen, sie dazu bringen, das Trinken aufzugeben, sie aus dieser Dunkelheit herausholen, in der sie wie eine schlafende Prinzessin in einem französischen Märchen dahin-schmachtete.
    Er hatte sie jedoch nicht ins Speisezimmer geführt, damit dies hier passierte. Er hatte nicht vorgehabt, sie zu verraten. Warum aber war niemand böse auf ihn? Was hatte er sich nur dabei gedacht, als er sie dorthin brachte? Der Gedanke, wie sie in ihrem Zimmer saß, umgeben von Ärzten und Cousinen, die nicht einmal ihre Blutsverwandten waren, war unerträglich für ihn. Sein Gesicht brannte, Tränen stiegen ihm in die Augen. Und das war schlimmer als alles andere.
    Dennoch mußte hier irgendwo die Lösung des Rätsels liegen, weshalb sie sich so verändert hatte, warum sie geschrien hatte, warum sie ihn geschlagen hatte. Wer war dieser rätselhafte Bruder in Konstantinopel?

    Es war in der zweiten Nacht nach diesem Vorfall, daß er die Antwort auf all seine Fragen erfahren sollte.
    Als er allein in seinem Zimmer zuAbend aß, hatte er allerdings noch nicht die geringste Ahnung davon. Der Himmel zeigte ein wunderschönes tiefes Blau, der Mond schien, und ein leiser Frühlingswind wehte. Überall auf dem Kanal, so schien es, sangen die Bootsführer. Hier schmetterte jemand einen Vers, den ein anderer beantwortete, tiefe Bässe, hohe Tenöre erschollen. Irgendwo in der Ferne waren die Geigen und Flöten der Straßensänger zu hören.
    Aber als er vollständig angekleidet auf seinem Bett lag, da er zu müde war, um nach seinem Kammerdiener zu klingeln, glaubte er, im Labyrinth des Hauses selbst, seine Mutter singen zu hören. Er tat dies als Unsinn ab, da aber erklang der hohe und bemerkenswert kräftige Sopran von Alessandro.
    Als Tonio mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem lauschte, konnte er auch die leise zirpenden Töne des Cembalos vernehmen.
    Gerade als ihm klargeworden war, daß er sich das Ganze nicht einbildete, klopfte es an der Tür und Giuseppe, der alte Kammerdiener seines Vaters, bat ihn mitzukommen: Sein Vater wünschte ihn zu sehen.

    Sein Vater lag in seinem Bett, eingehüllt in einen schweren Morgenmantel aus dunkelgrünem Samt, der die Form einer Patrizierrobe hatte. Selbst hier, an sein Kopfkissen gelehnt, wirkte er

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