Falsetto
königlich.
Die kleine Gruppe von Männern stand ein Stück von ihm entfernt. Als Tonio eintrat, erhob sich seine Mutter vom Cembalo.
Sie trug ein Kleid aus rosa Seide, ihre Taille war erschreckend schmal und ihr Gesicht blaß. Aber sie war wiederhergestellt.
Ihr Blick war klar, und in ihren Augen schimmerte das Wissen um irgendein wunderbares Geheimnis. Ihre Lippen fühlten sich auf seinen Wangen warm an. Es schien, als wolle sie etwas sagen, wisse aber, daß sie noch warten mußte.
Als er sich hinunterbeugte, um seinem Vater die Hand zu küssen, stand sie ganz nah bei ihm.
»Setz dich, mein Sohn«, sagte Andrea. Dann begann er sofort zu sprechen, wobei seine Stimme etwas von jener für ihn cha-rakteristischen Zeitlosigkeit hatte, die ihn so lebendig wirken ließ. Sein hohes Alter erschien dadurch nur als leichte Ungerechtigkeit.
»Jene, die die Wahrheit mehr lieben als mich, haben oft gesagt, ich würde nicht in dieses Jahrhundert gehören.«
»Signore, wenn das so ist, dann ist dieses Jahrhundert verloren«, warf Signore Lemmo ein.
»Unsinn, Sie wollen mir nur schmeicheln«, sagte Andrea. »Ich fürchte allerdings, es ist wahr, dieses Jahrhundert ist verloren, aber zwischen mir und dieser Tatsache besteht keine Verbindung. Wie ich schon sagte, bevor mir mein Sekretär so unnö-
tigen Trost spenden wollte, passe ich nicht in diese Zeit und habe mich ihr nur mit Schwierigkeiten angepaßt.
Aber ich will dich nicht mit einer Aufzählung meiner Schwä-
chen langweilen, da ich glaube, daß sie sich eher als ermü-
dend denn als lehrreich erweisen würden. Ich bin zu dem Entschluß gelangt, daß deine Mutter mehr von dieser Welt sehen muß und du ebenfalls. Alessandro, der schon lange den Wunsch gehabt hat, die Herzogliche Kapelle zu verlassen, hat eingewilligt, ein Mitglied dieses Haushalts zu werden. Von jetzt an wird er dir Musikunterricht erteilen, mein Sohn, da du gro-
ßes Talent besitzt. Dich in dieser Kunst zu vervollkommnen, kann dich viel über das übrige Leben lehren, wenn du es zu-läßt. Aber er soll deine Mutter auch begleiten, wann immer sie ausgeht. Es ist mein Wunsch, daß du Zeit von deinen Studien abzweigst, um dich den beiden anzuschließen. Deine Mutter ist ganz bleich, weil sie so zurückgezogen gelebt hat. Ich möchte, daß sie ihre tiefverwurzelte Schüchternheit ablegt.
Sieh zu, daß sie dieses Jahr am Karneval teilnimmt und in die Oper geht, und sorge dafür, daß sie die Einladungen, die sie in Kürze bekommen wird, annimmt. Paß auf, daß sie Alessandro erlaubt, euch beide überallhin mitzunehmen.«
Tonio warf einen raschen Blick zu seiner Mutter hinüber. Es war ihr deutlich anzusehen, wie glücklich sie war. Alessandro starrte Andrea voller Bewunderung an.
»Dieses Leben wird neu für dich sein«, sagte Andrea. »Aber ich glaube, daß du dessen Anforderungen mit Freude begegnen wirst. Als erstes wirst du übermorgen bei der Senza mit-gehen. Ich kann nicht laufen, deshalb wirst du dort unsere Familie vertreten.«
Tonio war überglücklich, aber er versuchte seine Begeisterung zu verbergen. Dennoch zeigte sich auf seinem Gesicht ein Lächeln, selbst als er sich auf die Lippen biß, den Kopf senkte und seinem Vater murmelnd und respektvoll sein Einverständnis gab.
Als er wieder aufsah, lächelte sein Vater. Eine kleine Weile hatte es den Anschein, als würde sein Vater irgendwie in die Weite blicken. Vielleicht aber hatte er sich auch nur in einer schönen Erinnerung verloren. Dann jedoch fiel die Freude von seinem Gesicht ab, und er schickte mit einem Anflug von Resignation die Gesellschaft fort.
»Ich muß mit meinem Sohn allein sein«, sagte er, während er Alessandros Hand nahm. »Es wird ziemlich spät werden, bis ich ihn entlasse. Lassen Sie ihn deshalb am Morgen ausschlafen.« Und zu seinem Sekretär sagte er: »Bringen Sie die Kerzen in mein Arbeitszimmer.«
Dann erhob er sich mühsam von seinem Bett. Die Türen wurden geschlossen, die Zimmer waren beinahe leer.
»Bitte, Euer Exzellenz, bleiben Sie doch hier«, sagte Signore Lemmo.
»Gehen Sie«, sagte Andrea lächelnd. »Und wenn ich tot bin, dann erzählen Sie bitte niemandem, wie böse ich auf Sie gewesen bin.«
»Exzellenz!«
»Gute Nacht«, sagte Andrea. Signore Lemmo ließ sie allein.
Andrea ging auf die geöffnete Flügeltür zu, aber er bedeutete Tonio, hinter ihm zu warten. Tonio sah zu, wie er ein großes quadratisches Zimmer betrat, daß er noch nie zuvor gesehen hatte. Auch das Zimmer, in dem er
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