Falsetto
Tenor oder Baß ge-wandelt hätte. Für Eunuchen war dies stets eine gefährliche Zeit. Niemand wußte warum, aber es schien, als versuche der Körper eben jene Veränderung zu vollbringen, die zu bewirken er nicht mehr die Kraft hatte. Diese vergebliche Anstrengung war eine Gefahr für die Stimme, so daß viele Gesangslehrer ihren Kastraten während dieser Monate nicht zu singen er-laubten. Die Stimme, so hoffte man, würde sich dann um so schneller erholen.
Im allgemeinen tat sie das auch.
Manchmal aber ging sie verloren.
Und bei Guido passierte diese Tragödie.
Ein halbes Jahr verging, bevor man sich schließlich sicher war. Dies waren unaussprechlich qualvolle Monate für Guido.
Wieder und wieder versuchte er es und vermochte lediglich heisere und kraftlose Töne hervorzubringen. Seine Maestros waren zutiefst betrübt. Gino und Alfredo konnten ihm nicht mehr in die Augen sehen. Selbst jene, die ihn beneidet hatten, waren stumm vor Entsetzen. Natürlich empfand niemand diesen Verlust so stark wie Guido selbst, nicht einmal Maestro Cavalla, der ihn ausgebildet hatte.
Und so sammelte Guido das ganze Geld, das er durch seine Gesangsauftritte bei Festen und Abendgesellschaften bekommen und das auszugeben er keine Zeit gehabt hatte, zusammen und verschwand eines Nachmittags ohne Gepäck, nur mit den Kleidern, die er auf dem Leib trug, und ohne sich von irgend jemandem zu verabschieden.
Er hatte keinen Führer bei sich, besaß auch keine Karte. Er fragte lediglich hin und wieder nach dem Weg, während er zehn Tage lang die steilen und staubigen Straßen entlang-wanderte, die ihn immer tiefer nach Kalabrien hineinführten.
Schließlich erreichte er das Dorf Caracena. Von dort brach er bei Morgendämmerung wieder auf. An seinem Rock hingen noch die Strohhalme von der Lagerstatt in dem Wirtshaus, in dem er übernachtet hatte. Nachdem er den Hang hinaufgestiegen war, sah er das Haus, das auf dem Grund und Boden seines Vaters stand und in dem er geboren worden war. Es war alles noch genauso, wie er es vor zwölf Jahren verlassen hatte.
Am Herdfeuer stand eine Frau. Sie war untersetzt und plump, hatte ein rundes Gesicht, aber einen verkniffenen Mund, da ihr einige Zähne fehlten. Ihre Augen waren milchig, ihre Haut glänzte vom Bratenfett. Einen Augenblick lang war er unsicher, dann erkannte er sie wieder. »Guido!« flüsterte sie.
Sie hatte jedoch Scheu, ihn zu berühren. Sie bückte sich, um einen Platz sauberzuwischen, damit er sich hinsetzen konnte.
Seine Brüder kamen herein. Stunden vergingen. Schmutzige Kinder drängten sich in der Ecke zusammen. Schließlich erschien sein Vater, der immer noch ein Koloß von einem Mann war. Er pflanzte sich vor ihm auf, einen klobigen Becher mit Wein in beiden Händen, den er ihm anbot. Seine Mutter tisch-te ihm ein ausgiebiges Abendessen auf.
Alle starrten auf seinen reichverzierten Rock, seine Lederschuhe, den Degen mit der silbernen Scheide, den er an der Seite trug.
Er aber saß da und starrte ins Feuer, als wäre er ganz allein im Raum.
Hin und wieder jedoch bewegten sich seine Augen, als würden sie von einer unsichtbaren Hand bewegt.
Dann blickte er diese dunkle Versammlung stämmiger Männer an, die Kleidung aus Schafsfell und Rohleder trugen und deren Hände vor Haaren und Schmutz ganz schwarz waren.
Was mache ich hier überhaupt? Warum bin ich hergekommen?
Er erhob sich zum Gehen.
»Guido«, sagte seine Mutter wieder. Rasch wischte sie sich die Hände ab und kam auf ihn zu, so als wolle sie sein Gesicht berühren. Es war erst das zweite Mal, daß ihn irgend jemand hier angesprochen hatte.
Etwas in ihrer Stimme fiel ihm auf. Es war derselbe Ton, in dem der junge Maestro in dem dunklen Übungszimmer mit ihm gesprochen hatte, der wie ein Echo jenes Mannes geklungen hatte, der bei der Kastration seinen Kopf gehalten hatte.
Er starrte sie an. Seine Hände begannen sich zu bewegen, suchten alle Taschen ab. Da kamen die Geschenke zum Vor-schein, die er für die vielen Konzerte erhalten hatte. Eine Bro-sche, eine goldene Uhr, Schnupftabakdosen mit Perlmuttintar-sien und schließlich Goldmünzen. Er gab ihnen alles. Ihre Hände fühlten sich so trocken an, genau wie getrocknete Erde auf einem Felsen. Seine Mutter weinte.
Bei Einbruch der Nacht befand er sich wieder in dem Wirtshaus in Caracena.
Sobald er das geschäftige Stadtzentrum von Neapel erreicht hatte, verkaufte Guido seine Pistole und erhielt dafür soviel, daß er sich ein Zimmer über einer
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