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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sich jetzt befand, hatte er noch nie gesehen, aber das andere faszinierte ihn weitaus mehr. Er sah, daß sich zwischen den Fenstern, die auf den Kanal hinausblickten, Bücher bis unter die Decke erstreckten.
    An den Wänden hingen Landkarten, auf denen die Territorien des venezianischen Reiches verzeichnet waren. Selbst von dort, wo er stand, erkannte er, daß das das Venedig längst vergangener Zeiten war. Waren nicht viele dieser Besitzungen verlorengegangen? Auf dieser Wand jedoch war der Veneto immer noch ein riesiges Herrschaftsgebiet.

    Sein Vater stand im Zimmer und blickte ihn gedankenverloren an.
    Tonio machte einen Schritt auf ihn zu.
    »Nein, warte«, sagte Andrea. Es war so leblos dahingemur-melt, daß er ebensogut mit sich selbst hätte reden können.
    »Hab es nicht so eilig, hier einzutreten. Im Augenblick bist du noch ein Junge. Wenn du dieses Zimmer wieder verläßt, muß du darauf vorbereitet sein, das Oberhaupt dieser Familie zu werden, sobald ich sie verlassen habe. Denke jetzt noch ein Weilchen über dieses Trugbild des Lebens nach. Koste deine Unschuld aus. Du wirst sie nämlich erst richtig schätzen können, wenn du sie fast schon verloren hast. Wenn du bereit bist, dann komm herein.«
    Tonio schwieg und senkte den Blick. Ganz bewußt kam er dann der Aufforderung seines Vaters nach und ließ sein Leben an sich vorbeiziehen. Im Geiste stand er in dem alten Archiv im Untergeschoß. Er hörte die Ratten, er hörte das Klatschen der Wellen. Das Haus selbst, das seit zwei Jahrhunderten im Sumpfland unter ihm verankert stand, schien sich zu bewegen. Als er wieder aufsah, sagte er rasch und mit leiser Stimme: »Vater, laß mich eintreten.«
    Und sein Vater winkte ihn heran.

    13

    Zehn Stunden waren vergangen, als Tonio die Türen des Arbeitszimmers seines Vaters wieder öffnete. Klares Morgenlicht sickerte durch die Fenster, als er den Großen Salon durchquerte und dann weiter zum Vordereingang des Palazzo ging.
    Sein Vater hatte ihm gesagt, er solle auf die Piazzahinausgehen und dort eine Weile dem sich täglich wiederholenden Schauspiel zusehen, das sich bot, wenn die großen Staatsmänner auf dem Broglio umherwanderten. Und Tonio brauchte dies jetzt mehr als alles andere. Es schien, als umgebe ihn ein köstliches Schweigen, das Fremde nicht zu brechen vermochten.
    Er trat auf den kleinen Kai vor der Tür und winkte einen vorbei-fahrenden Gondoliere herbei, um sich zur Piazzetta fahren zu lassen.
    Es war der Tag vor der Senza, wie immer waren unzählige Menschen unterwegs. Die Staatsmänner standen in langer Reihe vor dem Palazzo Ducale, nahmen ehrerbietige Küsse auf ihre weiten Ärmel entgegen und verbeugten sich feierlich voreinander.
    Tonio schenkte der Tatsache, daß er allein und frei war, wenig Beachtung, da dies für ihn jetzt nicht mehr dieselbe Bedeutung hatte wie vorher.
    Die Geschichte, die ihm sein Vater erzählt hatte, hatte ihn zutiefst erschreckt. Sie war durchwoben vom Blut der Wirklichkeit und von unendlicher Traurigkeit. Die Geschichte der Treschi war dabei nur ein Teil davon gewesen.
    Sein ganzes junges Leben lang hatte Tonio geglaubt, Venedig hätte in Europa eine Vormachtstellung. Er war mit der Auffas-sung aufgewachsen, daß die Serenissima die älteste und stärkste Republik in Italien sei. Die Wörter Königreich, Kreta, Peloponnes riefen bei ihm verschwommene Bilder von ruhm-reichen Schlachten hervor.
    In dieser einen langen Nacht jedoch war der venezianische Staat alt und dekadent geworden. Seine Grundfesten wackelten, fast schon zerfiel er zu einer strahlenden und glitzernden Ruine. 1645 war Kreta verlorengegangen, und in den Kriegen, in denen Andrea und seine Söhne gekämpft hatten, hatte man es nicht zurückzugewinnen vermocht. 1716 war Venedig ein für allemal vom Peloponnes vertrieben worden.
    Nichts war im Grunde von dem großen Reich übriggeblieben, außer der großen Stadt selbst und ihren Besitzungen auf dem Festland, das sie umgab. Padua, Verona, kleine Städte, der großartige Landstreifen an der Brenta mit seinen prächtigen Villen.
    Venedigs Botschafter übten an den Höfen im Ausland keinen bemerkenswerten Einfluß mehr aus, und jene, die nach Venedig geschickt wurden, kamen weniger der Politik wegen als um des Vergnügens willen.
    Es war das riesige Rechteck der Piazzamit seinem Karnevalstrubel, das sie anzog;es war der Anblick der kohlschwarzen Gondeln, die durch die Wasserstraßen glitten; es war der unermeßliche Reichtum und die Schönheit von San

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