Falsetto
Marco; es waren die singenden Waisenkinder der Pietà. Die Oper, die Gemälde, die singenden Gondolieri, die prächtigen Kronleuchter aus den Glasereien von Murano.
Das war Venedig jetzt, sein Reiz, seine Macht. Im Grunde war es genau das, was Tonio gekannt und geliebt hatte, solange er denken konnte. Mehr aber war da nicht.
Dennoch war das seine Stadt, sein Staat, den sein Vater ihm hinterlassen hatte. Seine Vorfahren zählten zu jenen heroi-schen Kämpfern, die sich einst in grauer Vorgeschichte als erste in dieses neblige Sumpfland hineingewagt hatten. Das Vermögen der Treschi gründete sich wie das Vermögen so vieler großer venezianischer Familien auf den Handel mit dem Orient.
Ob die Serenissima nun die Welt beherrschte oder sich nur gegen sie behauptete, sie war Tonios Schicksal.
Ihre Unabhängigkeit lag in seiner Obhut, so wie sie in der Obhut all jener Patrizier lag, die im Staat noch das Ruder führten.
Und Europa, das ein heftiges Verlangen nach diesem prächtigen Juwel von einer Stadt verspürte, durfte niemals gestattet werden, es in seine Arme zu schließen.
»Bis zu deinem letzten Atemzug«, hatte Andrea gesagt, wobei seine Stimme ebenso körperlos und voller Energie war wie seine glänzenden Augen, »wirst du unsere Feinde jenseits der Tore des Veneto halten.«
Das war die ehrwürdige Bürde, die ein Patrizier in einer Zeit zu tragen hatte, in der das Vermögen, das im Handel mit dem Orient gewonnen worden war, mit Spiel, Pomp und Schauver-anstaltungen verpraßt wurde. Das war die Verantwortung, die ein Treschi zu übernehmen hatte.
Schließlich aber war der Augenblick gekommen, an dem Andrea seine eigene Geschichte offenlegen mußte.
»Ich weiß, daß du von deinem Bruder Carlo erfahren hast«, sagte er und löste sich damit vom großen Rahmen der Geschichte. Seine gemessene Stimme gab zum ersten Mal durch ein leichtes Beben Gefühle zu erkennen. »Es scheint, als brauchtest du nur aus dieser Tür zu treten, und schon ernüchtert dich die Welt eiligst durch diesen alten Skandal. Alessandro hat mir vom Freund deines Bruders erzählt, der nur einer seiner vielen Verbündeten ist, die sich mir im Großen Rat, im Senat und wo sie sonst noch Einfluß haben, immer noch ent-gegenstellen. Außerdem hat mir deine Mutter erzählt, was du auf dem Bild im Speisezimmer entdeckt hast.
Nein, unterbrich mich nicht, mein Sohn. Ich bin dir nicht böse.
Du mußt jetzt jene Tatsachen erfahren, die andere für ihre eigenen Zwecke gebrauchen und verdrehen werden. Hör gut zu:
Was war mir geblieben, als ich nach so vielen Niederlagen endlich von der See nach Hause zurückkehrte? Drei Söhne waren gestorben, meine Frau hatte ich nach langer und schwerer Krankheit verloren. Warum wollte es Gott so, daß es ausgerechnet der Jüngste sein sollte, der alle anderen über-lebte, ein Sohn, der ein so rebellisches und gewalttätiges Wesen besaß, daß sein größtes Vergnügen darin bestand, seinem Vater zu trotzen?
Du hast sein Bild gesehen, und du hast gesehen, wie sehr du ihm äußerlich gleichst; aber damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf, denn du besitzt unverkennbar Charakter, wohinge-gen dein Bruder Carlo mit allen Lastern dieser schlimmen Zeit behaftet war. Lebenslustig war er, ein glühender Verehrer der Primadonnen, ein Müßiggänger. Er las Gedichte, gab sich dem Spielen und dem Trinken hin. Er war jenes ewige Kind, das, da es ihm verwehrt war, im Dienste des Staates Ruhm zu erringen, keine Lust hat, stillen Mut zu zeigen.«
Andrea hielt inne, so als wäre er sich nicht sicher, wie er fort-fahren wollte. Müde sprach er dann weiter: »Du weißt ebensogut wie ich, was es bedeutet, wenn ein Patrizier ohne Erlaubnis des Großen Rates heiratet: Er ist vernichtet. Wenn du dir eine Braut ohne Familie oder Vermögen nimmst, dann wird der Name Treschi für immer aus dem Goldenen Buch gestrichen; deine Kinder sind nichts als gewöhnliche Bürger der Serenissima.
Und dennoch hat jener, von dem der Fortbestand dieser Linie abhing, sein Leben in der Gesellschaft von Tunichtguten verbracht und die Verbindungen, die ich für ihn zu knüpfen versuchte, verächtlich zurückgewiesen!
Schließlich hat er sich selbst eine Frau ausgesucht, so wie man sich vielleicht eine Mätresse aussucht. Ein namenloses Mädchen ohne Mitgift, das Kind eines Adligen vom Festland, das nichts als ihre Schönheit hatte. ›Ich liebe sie‹, sagte er zu mir. ›Ich will keine andere!‹ Und als ich seine Bitte zurückwies, ihm
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