Falsetto
ersten Mal nicht ganz klar, was er sagen sollte. »Seine Brüder hatten ihn heiß und innig geliebt. Es störte sie in keiner Weise, daß er so leichtfertig war. Nein, sie liebten seine Späße, die Gedichte, die er schrieb, sein leeres Geplapper. Oh, wie sie alle in ihn vernarrt waren. ›Carlo, Carlo.‹ Aber Gott war so gnädig, keinen von ihnen erleben zu lassen, wie er seinen unwiderstehlichen Charme darauf verwendete, um ein unschuldiges Mädchen zu verführen, wie sein Ungestüm zu Trotz wurde.
Lieber Gott, was sollte ich tun? Ich wählte den einzig ehrenvol-len Weg, den es für mich gab.«
Er runzelte die Stirn. Seine Stimme klang plötzlich ganz dünn und müde. Einen Augenblick lang zog er sich in sich zurück, dann gewann er seine Kräfte wieder.
»Ich ging nachsichtig mit ihm um!« beharrte er. »Ja, nachsichtig. Bald akzeptierte er seine Pflichten. Mit der Geldzuwen-dung, die ihm gewährt wurde, hat er gut gewirtschaftet. Und während er im Dienste der Republik im Osten gehorsam seine Pflicht tat, hat er immer wieder darum ersucht, zurückkehren zu dürfen. Er hat mich um Vergebung gebeten.
Aber ich werde ihm niemals erlauben, nach Hause zurückzukehren!
Doch das wird nicht immer so bleiben. Er hat im Großen Rat und im Senat Freunde, junge Männer, die die Jugend mit ihm verbracht haben. Wenn ich sterbe, wird er in dieses Haus zu-rückkehren, denn er ist niemals enterbt worden. Aber du, Tonio, wirst hier der Hausherr sein, du wirst später die Frau heiraten, die ich bereits für dich ausgewählt habe. Deine Kinder werden das Vermögen und den Namen der Treschi erben.«
Die Morgensonne explodierte auf dem goldenen Löwen von San Marco. Sie tauchte die langen, eleganten Arme der Arkaden, die sich in der bunten strudelnden Menge verloren, und den langen Speer des Campanile, der sich jäh zum Himmel erhob, in glänzend weißes Licht.
Toni stand vor den schimmernden Mosaiken, die sich über den Kirchentüren befanden. Er starrte die vier großen Bronze-pferde auf ihren Sockeln an.
Er ließ sich von der Menge herumstoßen, ließ sich in ihr treiben, sein Blick aber blieb auf das ungeheure Gefüge von Porticos und Kuppeln geheftet, das sich rings um ihn erhob.
Noch nie hatte er Venedig so geliebt, noch nie eine so reine und schmerzliche Hingabe empfunden. Verschwommen war ihm bewußt, daß er viel zu jung war, um die Tragödie, die über die Stadt hereingebrochen war, wirklich zu verstehen. Sie schien zu fest, zu kräftig, zu prachtvoll.
Als er sich dem offenen Wasser zuwendete, der glänzenden bewegungslosen See, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, in vollem Besitz des Lebens selbst zu sein, so wie er jetzt im Besitz der Geschichte war.
Es war jedoch erst eine Stunde her, daß ihn ein abgespannter und erschöpfter Andrea mit einem so resignierten Ausdruck auf dem alten Gesicht verlassen hatte, daß ihn die Furcht gepackt hatte. Jetzt kamen ihm die abschließenden Worte seines Vaters wieder in den Sinn. »Er wird nach Hause kommen, wenn ich gestorben bin. Er wird dieses Haus wieder zu einem Schlachtfeld machen. Keine sechs Monate vergehen, in denen ich nicht einen Brief von ihm erhalte, in dem er gelobt, die Frau zu heiraten, die ich für ihn ausgesucht habe, wenn ich ihm nur erlaube, sein geliebtes Venedig wiederzusehen.
Aber er soll niemals heiraten!
Wäre es mir doch vergönnt, daß ich dich noch mit deiner Braut am Altar sehen könnte, daß ich sehen könnte, wie deine Söh-ne heranwachsen, daß ich miterleben könnte, wie du zum ersten Mal deine Patrizierrobe anlegst und deinen angestammten Platz im Rat einnimmst.
Aber dafür bleibt mir keine Zeit mehr. Gott hat mir deutliche Zeichen geschickt, daß ich dich auf das vorbereiten muß, was dich erwartet.
Verstehst du jetzt, warum ich dich in die Welt hinausschicke, warum ich dir unter dem Vorwand, daß du deine Mutter begleiten sollst, deine Kindheit nehme? Ich schicke dich in die Welt hinaus, weil du bereit sein mußt, wenn die Stunde kommt. Du mußt die Welt kennen, ihre Versuchungen, ihre Vulgarität.
Aber denk daran, daß ich zwar nicht mehr dasein werde, wenn dein Bruder wieder unter diesem Dach lebt, daß aber der Gro-
ße Rat und das Gesetz auf deiner Seite stehen. Mein Wille wird dich stärken. Dein Bruder wird die Schlacht verlieren, die er schon einmal verloren hat: In dir lebe ich weiter.«
14
Ein makellos blauer Himmel spannte sich über den Dächern, lediglich ein paar strahlend weiße Wolken segelten landein-wärts.
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