Falsetto
Alle Fenster zum Kanal hinaus standen offen, damit die milde Brise hereinwehen konnte, von den Fenstersimsen hingen Teppiche in prächtigen Farben, Fahnen flatterten. Es war ein Schauspiel, das sich überall an den Ufern wiederholte, großartiger, als Tonio es je gesehen hatte.
Als er, Marianna und Alessandro, alle drei prächtig gekleidet, zu dem kleinen Kai hinabstiegen, ertappte er sich dabei, wie er laut flüsterte: »Ich bin hier, dies hier passiert tatsächlich!« Es kam ihm ganz unglaublich vor, daß er in das Panorama eintrat, das er so oft aus der Ferne betrachtet hatte.
Sein Vater winkte ihnen vom Balkon über dem Haupteingang zu. Die Gondel war mit blauem Samt ausgeschlagen und mit Blumengirlanden geschmückt. Das große Ruder war vergoldet, und Bruno, in seiner leuchtendblauen Uniform, steuerte das Boot in die Flut. Ringsum waren all die anderen vorneh-men Familien zu sehen. Gemeinsam fuhren sie, im Kielwasser Hunderter von Gondeln tanzend, stromabwärts auf die Mündung des Kanals und auf die Piazzetta zu.
»Da ist er«, flüsterte Alessandro und deutete über die hin und her schaukelnden, wartenden Gondeln hinweg, die versuchten, ihren Platz beizubehalten. Dort lag der Bucintoro vor Anker. Die riesige Galeere, die den Dogenthron und eine Fülle goldener Statuen trug, prangte in goldener und karminroter Pracht. Tonio faßte seine Mutter um die schmale Taille und hob sie hoch, damit sie etwas sehen konnte.
Er selbst konnte die Erregung kaum ertragen. Sein ganzes Leben lang würde er sich daran erinnern, dachte er, an diesen Moment, als sich der Klang der Trompeten und Querpfeifen schrill und prächtig in die Luft erhob, um zu verkünden, daß der Doge vom Palazzo Ducale zur Piazzagetragen wurde.
Die See war mit Blumen übersät, überall schwammen Blütenblätter auf den glitzernden Wogen, so daß es fast aussah, als sei das Wasser mit einem Teppich überzogen. Die goldenen Boote der hohen Staatsbeamten fuhren hinaus, dahinter kamen die Botschafter und der päpstliche Nuntius. Die großen Kriegsschiffe und Handelsfahrzeuge, die in der Lagune lagen, gaben Salutschüsse ab und hißten ihre Flaggen.
Schließlich bewegte sich die ganze Flotte der Patrizier auf den Leuchtturm des Lido zu.
Rufe, Winken, Reden, Lachen, all das vermischte sich in Tonios Ohren zu einem großartigen, wunderschönen Brausen.
Nichts aber übertraf den Schrei, der sich erhob, als der Doge seinen Ring ins Wasser warf. Sämtliche Glocken der Insel läuteten, die Trompeten schmetterten, Tausende und Abertausende jubelten aus voller Kehle.
Es war chaotisch, es war verrückt, es war schwindelerregend.
Tonio war von der Sonne geblendet. Er beschirmte die Augen mit der Hand, während Alessandro ihm in der schwankenden Gondel Halt gab. Die Lisani, deren Gondolieri rosenfarbene Kleidung trugen, kamen längsseits. Ihre Diener streuten weiße Blüten ins Wasser, während Catrina Kußhände warf. Ihr Kleid aus silberfarbenem Damast blähte sich hinter ihr wie ein Segel.
Das alles hätte an sich schon genügt. Tonio war erschöpft, ihm war ein wenig schwindelig, und er verspürte das Bedürfnis, sich in ein schattiges Eckchen zurückziehen, um dort das Ganze noch ein wenig auszukosten.
Was konnte noch mehr geschehen? Aber als Alessandro ihnen sagte, sie würden jetzt auf das Fest des Dogen im Palazzo Ducale gehen, da mußte er fast lachen.
An langen, weißgedeckten Tischen saßen Hunderte von Menschen, ein Vermögen an Wachskerzen in schweren, reichverzierten Silberleuchtern erhellte den Saal, während Diener auf riesigen Tabletts kunstvoll angerichtete Speisen hereintrugen -
Früchte, Eis, dampfende Platten mit Fleisch - und an den Wänden drängten sich die gewöhnlichen Leute, um diesem endlosen Schauspiel zuzusehen.
Tonio war kaum in der Lage, irgend etwas zu schmecken. Der Wein stieg ihm sofort zu Kopf. Verschwommen und wie aus großer Ferne sah er, wie Catrina ihn anstrahlte. Ihr dichtes, blondes Haar war eine einzige Masse wohlgeformter kleiner Locken, ihr üppiges Dekolleté mit Diamanten geschmückt. Auf ihren Wangen lag eine Röte wie gemalt, die ihm die idealen Schönheiten auf Bildern plötzlich real erscheinen ließ. Sie war voll erblüht, herrlich.
Alessandro indessen schien sich absolut wohl zu fühlen. Er schnitt Marianna das Fleisch auf dem Teller, stellte die Kerzen beiseite, wenn sie sie blendeten, und hatte ihr stets seine Aufmerksamkeit zugewandt. Der perfekte Begleiter, dachte Tonio.
Als er ihn jedoch
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