Falsetto
beobachtete, spürte er wieder, daß die Eunuchen ein Geheimnis umgab. Seit Jahren hatte er nicht mehr daran gedacht. Was empfand Alessandro? Wie war es, wenn man so war wie er? Obwohl er von Alessandros trägen Händen und den halbgeschlossenen Lidern, von jener wunderbaren Grazie, mit der er noch die kleinsten Gesten ausführte, fasziniert war, schauderte es ihn unwillkürlich. Ist ihm sein Zustand nie verhaßt? Wird er nie von Bitterkeit verzehrt?
Die Violinen hatten wieder zu spielen begonnen. Am Kopf der Tafel war brüllendes Gelächter ausgebrochen. Signore Lemmo kam vorbei, nickte kurz.
Der Karneval begann. Alle erhoben sich, um auf die Piazza hinauszugehen.
Überall waren prächtige Gemälde ausgestellt, die Waren der Goldschmiede und der Glasbläser funkelten und glitzerten im Licht, das aus den offenen Cafés strömte, wo sich die Leute drängten, um Schokolade oder Wein zu trinken und Eis zu essen.
Die riesige Piazzaerstreckte sich in die Unendlichkeit. Die Lichter strahlten, als wäre es heller Mittag. Die halbkreisförmigen Mosaiken von San Marco warfen über die ganze Szenerie ein mattes Glitzern, so als wären sie lebendig und würden dem Treiben zusehen.
Alessandro behielt seine Schützlinge immer dicht in seiner Nähe, und er war es auch, der Marianna und Tonio in das kleine Geschäft führte, wo man sie mit Bautas und Dominos ausstattete.
Tonio hatte noch nie eine Bauta getragen, die vogelartige Maske aus kalkweißem Tuch, die nicht nur das Gesicht bedeckte, sondern bei der auch der Kopf mit einem schwarzen Umhang verhüllt wurde.
Als sie wieder in das blendende Licht hinaustraten, waren sie nun nur noch ein Trio unter Hunderten solch namenloser und gesichtsloser Wesen, während andere in wilden und phantastischen Kostümen erschienen waren. Sie hielten sich in dem Gedränge fest bei den Händen, um einander nicht zu verlieren. Musik und Jubelrufe erfüllten die Luft.
Die riesigen Figuren der Commedia dell'arte erhoben sich über der Menge. Es war, als würde man Marionetten zusehen, die lebendig geworden und zu monströser Größe aufgeschwollen waren. Bemalte Gesichter glänzten grotesk im Lichte der Fak-keln. Tonio merkte plötzlich, daß Marianna sich vor Lachen krümmte. Alessandro hatte ihr etwas ins Ohr geflüstert. Sie hatte seinen Arm genommen, während sie sich mit der anderen Hand an Tonio festhielt.
Jemand rief ihnen zu: »Tonio, Marianna.«
»Psst, woher wissen Sie, wer wir sind!« fragte Marianna. Aber Tonio hatte bereits seine Cousine Catrina Lisani erkannt. Sie trug nur eine Halbmaske. Ihr Mund darunter sah aus wie ein kleiner roter Halbmond, nackt und köstlich. Er spürte, wie Leidenschaft in ihm aufwallte, was ihn verwirrte. Bettina, das kleine Serviermädchen, kam ihm in den Sinn. Ob es wohl möglich war, Bettina hier zu finden? »Mein Liebling!« Catrina zog ihn an sich. »Du bist es doch, oder?« Sie gab ihm einen so herzhaften Kuß, daß es ihm fast schwindelig wurde.
Er trat einen Schritt zurück. Die plötzliche Härte zwischen seinen Beinen machte ihn rasend. Er wäre lieber gestorben als sie es wissen zu lassen, aber als sie ihre Hand um seinen Nacken legte und dabei die einzige Stelle fand, die nicht verhüllt war, spürte er, daß ihm gleich etwas schrecklich Peinliches passieren würde.
»Was ist denn über deinen Vater gekommen, daß er euch beide hinausgelassen hat?« fragte Catrina. Jetzt wandte sie ihre überschwengliche Zuneigung Gott sei Dank Marianna zu.
Plötzlich sah Tonio das Haus, die dunklen Zimmer, die dämmrigen Flure. Er sah seinen Vater, wie er allein in diesem schwach erleuchteten Arbeitszimmer stand, währen die Morgensonne die Kerzenflammen zu festen Objekten werden ließ und das Gewicht der Geschichte auf seiner skelettartigen Gestalt lastete.
15
Auf der Piazzaherrschte nun ein solches Gedränge, daß sie sich kaum rühren konnten. Überall waren Bühnengerüste errichtet worden, auf denen sich Jongleure, Possenreißer und wilde Tiere tummelten, die wütend knurrten, wenn Dompteure mit ihren Peitschen knallten. Akrobaten schlugen über den Köpfen der Menge Saltos, während der Wind warmen Regen herantrug, von dem aber niemand naß wurde. Tonio kam es so vor, als würden sie immer und immer wieder von einem lebendigen Strom erfaßt, der sie in die vollgestopften Cafés hineinspülte oder wieder unter den Porticos hervorspuckte.
Hier und da tranken sie Weinbrand und Kaffee. Manchmal ließen sie sich außer Atem auf eine Bank fallen,
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