Falsetto
gerade lange genug, um ein wenig zu verschnaufen, wobei ihr Atem durch die Masken merkwürdig pfeifend klang.
Inzwischen tauchten überall extravagante Maskenträger auf.
Spanier, Zigeuner, Indianer aus der Wildnis Nordamerikas, Bettler in Lumpen aus Samt, junge Männer, herausgeputzt wie Frauen mit geschminkten Gesichtern und hohen Perücken, Frauen, ausstaffiert wie Männer, wobei deren zarte Gestalt in den Seidenhosen und den engen Strümpfen unaussprechlich verführerisch wirkte.
Es schien, als gäbe es so viel zu tun, daß sie sich für gar nichts entscheiden konnten. Marianna wollte sich die Zukunft vorhersagen lassen, hatte aber keine Lust, sich in die lange Warteschlange vor dem Tisch der Wahrsagerin einzureihen.
Eine Frau packte Tonio bei der Taille, wirbelte ihn in einem wilden Tanz ein paarmal herum und ließ ihn dann wieder los.
Man konnte unmöglich sagen, ob unter der Verkleidung ein Spülmädchen steckte oder eine Prinzessin, die gerade Venedig besuchte. Irgendwann einmal wich er zur Kirche zurück und lehnte sich erschöpft an einen Pfeiler. Sein Kopf war von allen Gedanken leergefegt wie nur selten, die Menge vor seinen Augen verschmolz zu einem prächtigen Farbenspiel.
Da spürte er, wie Mariannas Hand der seinen entschlüpfte. Als er sich nach ihr umdrehte, war sie plötzlich verschwunden.
Er blickte um sich, sah nach rechts, sah nach links. Wo war Alessandro?
Die große Gestalt, die er ein Stück weiter vorn sah, das mußte er sein, aber die Gestalt entfernte sich. Er schrie ihr etwas nach, konnte dabei aber nicht einmal selbst seine Stimme hö-
ren. Als er zurückblickte, entdeckte er eine kleine Person mit Bauta und Domino in den Armen eines anderen Maskierten.
Es schien, als würden die beiden sich küssen oder einander etwas zuflüstern, jedenfalls waren ihre Gesichter hinter dem Umhang des Fremden verborgen. »Mamma.« Er ging auf die kleine Person zu, wurde aber von der Menge abgedrängt, bevor er sie erreichen konnte.
Dann hörte er Alessandro hinter sich. »Tonio!« Er hatte ihn immer wieder mit der angemessenen Anrede Exzellenz angesprochen, darauf aber keine Antwort erhalten.
»Ach, sie ist verschwunden!« sagte Tonio verzweifelt.
»Dort ist sie doch«, antwortete Alessandro, und wieder war da eine kleine Gestalt, vogelgesichtig, unheimlich, die ihm direkt ins Gesicht starrte.
Er nahm seine Maske ab, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und schloß für einen Moment die Augen.
Sie gingen erst nach Hause, als sie nur noch zwei Stunden Zeit hatten, um sich für die Vorstellung im Theater fertigzuma-chen. Marianna löste ihr langes schwarzes Haar und stand mit glänzenden Augen wie verzaubert da. Als sie sah, daß Tonio ein ernstes Gesicht machte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß.
»Aber Mamma ...« Er entzog sich ihr abrupt. »Als wir in der Nähe der Kirchentür waren, hat da jemand ... hat da jemand ...?« Er hielt inne, absolut unfähig, weiterzusprechen.
»Hat jemand was getan? Was ist denn los mit dir?« fragte sie freundlich. Sie schüttelte ihr Haar. Ihr Gesicht nahm einen fra-genden Ausdruck an, auf ihren Lippen lag ein verwirrtes Lä-
cheln. »Was soll denn an der Kirchentür Besonderes gewesen sein, ich kann mich an nichts erinnern. Wann waren wir an der Kirchentür? Das ist Stunden her. Abgesehen davon« - sie stieß ein leises Lachen aus -»habe ich doch dich und Alessandro, um meine Ehre zu schützen.«
Er starrte sie mit einem Gefühl an, das fast schon Entsetzen gleichkam.
Sie setzte sich vor den Spiegel, während Lena ihr das Mieder aufhakte. All ihre Bewegungen waren rasch, aber unsicher.
Sie nahm den Glasstöpsel von ihrem Duftwasser und hielt ihn sich unter die Nase. »Was soll ich anziehen, was soll ich anziehen, und du, sieh dich nur an, du, der du dein ganzes Leben darum gebettelt hast, in die Oper gehen zu dürfen. Weißt du denn nicht, wer heute abend singt?« Sie drehte sich, die Hände auf die gepolsterte Bank gestützt, zu ihm um und sah ihn an. Ihr Kleid war herabgerutscht, und ihre Brüste waren fast entblößt, doch sie schien es nicht zu bemerken. Sie wirkte kindlich.
»Aber Mamma, ich dachte, ich hätte gesehen...«
»Hörst du jetzt auf damit!« schrie sie plötzlich. Lena wich erschreckt zurück, er aber rührte sich nicht.
»Sieh mich nicht so an«, sagte sie mit hoher, schriller Stimme und hielt sich dabei die Ohren zu, als wäre ihr der Klang ihrer eigenen Stimme unangenehm. Sie begann zu keuchen, es
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