Falsetto
schien, als würde jemand erbarmungslos an ihren Gesichtsmuskeln zerren.
»Nein, nicht... nicht«, flüsterte er. Er strich ihr übers Haar, tätschelte sie, bis sie tief ausatmete und sich entspannte. Als sie dann wieder zu ihm aufsah, lag abermals jenes glitzernde und wunderschöne Lächeln auf ihrem Gesicht, das er so erschrek-kend fand. Es dauerte jedoch nur einen Augenblick. Ihre Augen waren feucht.
»Tonio, ich habe nichts Schlechtes getan«, flehte sie ihn an, als wäre sie seine kleine Schwester. »Wage bloß nicht, mir alles zu verderben, das darfst du nicht. In all diesen Jahren war ich erst ein einziges Mal dabei. Wage bloß nicht, bloß nicht...«
»Mamma!« Er drückte sie an sich. »Es tut mir leid.«
Sobald sie die Loge betraten, wußte Tonio, daß er nicht in der Lage sein würde, irgend etwas zu hören.
Das war keine Überraschung. Er hatte genügend Geschichten darüber gehört, wie es im Theater zuging, und er wußte, daß es bei drei verschiedenen Vorstellungen an diesem Abend ein ständiges Kommen und Gehen zwischen den Opernhäusern geben würde. Catrina Lisani, die eine weiße Satinmaske trug, saß bereits mit ihrem Neffen Vincenzo beim Kartenspiel, wobei sie der Bühne den Rücken zukehrte. Die jungen Lisani winkten und zischten den Leuten im Parkett zu, der alte Senator, Catrinas Ehemann, döste in seinem vergoldeten Stuhl vor sich hin, wachte dann plötzlich auf und brummte, daß er sein Abendessen haben wolle.
»Komm her, Alessandro«, sagte Catrina, »und sag mir, ob es wahr ist, was man über Caffarelli erzählt.« Sie fing zu lachen an, noch bevor Alessandro ihr die Hand küssen konnte, dann winkte sie Marianna zu sich, damit sie sich neben sie setzte.
»Und du, meine Liebe, weißt du, was es mir bedeutet, dich endlich hier zu sehen, zu sehen, wie du dich amüsierst und dich verhältst, als wärst du ein Mensch?«
»Ich bin nur allzusehr Mensch«, flüsterte Marianna. In der Art und Weise, wie sie sich an Catrina herankuschelte, lag etwas unwiderstehlich Mädchenhaftes. Daß irgend jemand gemein zu ihr sein könnte, daß er gemein zu ihr sein könnte, erschien Tonio unmöglich. Plötzlich hatte er das Gefühl, weinen zu müssen, singen zu müssen.
»Spiel, spiel«, sagte Vincenzo.
»Ich sehe keinen Grund«, sagte der alte Senator, der viel jünger als Andrea war, »weshalb ich mit dem Abendessen warten sollte, bis die Musik begonnen hat.«
Diener in Livree kamen und gingen, boten Wein in Kristallglä-
sern an. Der alte Senator verschüttete Rotwein auf sein Spitzenjabot und starrte dann hilflos auf den Fleck hinunter. Er war früher ein gutaussehender Mann gewesen und wirkte mit seinem grauen Haar, das sich in dichten Wellen um seine Schlä-
fen kräuselte, auch jetzt noch eindrucksvoll. Er hatte rabenschwarze Augen und eine Hakennase, die ihm etwas Stolzes verlieh, wenn er seinen Kopf hob. Nun aber sah er wie ein Kleinkind aus.
Tonio trat an die Brüstung. Das Parterre war bereits brechend voll, ebenso die drei Ränge über ihm.
Überall waren Masken zu sehen, angefangen bei den Gondolieri im Parkett bis hin zu den soliden Kaufleuten weiter oben, die mit ihren sittsam in Schwarz gekleideten Frauen gekommen waren. Das Stimmengewirr und Gläserklingen schien sich in Wellen zu erheben, denen kein erkennbarer Rhythmus zugrunde lag.
»Tonio, du bist zwar noch zu jung dafür«, sagte Catrina über die Schulter gewandt, »aber ich will dir trotzdem von Caffarelli erzählen ...« Er blickte sie nicht an, weil er den köstlich sinnlichen Schlitz ihres Mundes nicht sehen wollte. Nackt und rot saß er unterhalb der weißen Maske, die ihre Augen so katzenhaft wirken ließ. Ihre Arme in den burgunderfarbenen Satinärmeln erschienen so weich, daß er die Zähne aufeinanderbeißen mußte, weil ihm plötzlich ein Bild durch den Kopf schoß, wie er ganz fest in sie hineinkniff.
Er hörte jedoch aufmerksam all dem Unsinn zu, den man sich über den großen Kastraten, der heute abend singen sollte, erzählte. Daß er in Rom vom Ehemann seiner Geliebten entdeckt worden war, als er gerade mit ihr im Bett lag. Im Bett, sagte Catrina. Tonios Gesicht brannte, als er daran dachte, daß auch seine Mutter und Alessandro all dem lauschten! Caffarelli mußte fliehen und verbrachte, in einer Zisterne versteckt, eine feuchte Nacht. Noch tagelang danach verfolgten ihn vom Ehemann gedungene Mörder überallhin, die Dame jedoch stellte Caffarelli Leibwächter zur Verfügung, die ihn ständig
Weitere Kostenlose Bücher