Falsetto
er die Treppen hinaufstieg, war er sich dessen sicher.
Als er im Dachgeschoß anlangte, blieb er stehen, denn am anderen Ende des Korridors sah er Lichtschein aus einer offenen Tür fallen. Tonio kannte sich hier oben aus. Er wußte, wo die Diener schliefen, er wußte, welche Räume Angelo und Beppo bewohnten, und er wußte, daß dieses Zimmer stets verriegelt gewesen war. Als kleiner Junge hatte er Möbel gesehen, als er durch das Schlüsselloch spähte. Er hatte das Schloß zuöffnen versucht, aber es war ihm nicht gelungen.
Jetzt kam ihm ein dunkler Verdacht. Rasch ging er den Korridor entlang und war sich dabei kaum bewußt, daß Signore Lemmo ihm folgte.
Andrea befand sich in dem Zimmer. Er stand, nur in einen Morgenmantel aus Flanell gekleidet, an einem der Fenster, die zum Wasser hinausblickten. Seine spitzen Schulterknochen zeichneten sich unter dem leichten Stoff deutlich ab. Er murmelte leise vor sich hin, so als würde er Selbstgespräche führen. Oder beten.
Tonio wartete eine Weile. Er ließ seinen Blick über die Wände schweifen, über die Bilder und Spiegel, die dort immer noch hingen. Vor langer Zeit, so schien es, war das Dach undicht geworden. Dunkle Wasserspuren zogen sich bis zum Boden hin. Überall roch es nach Moder und Verwesung, und Tonio sah, daß auf dem Bett immer noch eine feuchte und verschlis-sene Bettdecke lag, auch die Vorhänge hingen immer noch an den Fenstern. Ein Stück der Wandvertäfelung war herabgefal-len. Auf einem kleinen Tisch neben einem Sessel mit Damast-bezug stand ein Glas, in dem sich noch irgendein dunkler Rest befand. Ein Buch lag, mit dem Gesicht nach unten, aufgeschlagen da, andere auf den Regalen waren so aufgequollen, daß sie ihren Ledereinband gesprengt hatten.
Es brauchte ihm niemand zu sagen, daß dies Carlos Zimmer war. Es brauchte ihm niemand zu sagen, daß es hastig verlassen und niemals mehr betreten worden war.
Voller Bestürzung sah er die Pantoffeln am Bett. Er sah die Kerzen in ihren Kerzenhaltern, die von Ratten abgenagt worden waren. Schräg gegen eine Truhe gelehnt, so als hätte es jemand achtlos dorthin geworfen, stand ein Porträt. Es war in einen der vertrauten goldenen ovalen Rahmen eingepaßt, die auch in der Galerie unten und im Großen Salon hingen, aus dem es offensichtlich auch stammte.
Und da war das Gesicht seines Bruders, mit jenen weit auseinanderstehenden schwarzen Augen, die mit vollkommenem Gleichmut in dieses verfallene Zimmer blickten.
»Warten Sie draußen«, sagte Tonio leise zu Signore Lemmo.
Das Fenster stand weit offen und bot einen Ausblick auf rote Ziegeldächer, die sich in alle Richtungen neigten und hier und da von kleinen Gärten und Kirchtürmen unterbrochen wurden.
In der Ferne sah man die Kuppeln von San Marco.
Da kam ein pfeifendes Geräusch von Andreas Lippen. Tonio verspürte ein heftiges Pochen in seinen Schläfen.
»Vater?« fragte er, als er näher zu ihm hintrat.
Andrea drehte widerwillig den Kopf herum. Er schien ihn nicht zu erkennen. Sein Gesicht war hagerer denn je und besaß einen fiebrigen Glanz. Der Blick seiner haselnußbraunen Augen, der immer so lebendig, wenn nicht sogar streng war, war verschwommen, so als hätte sich ein Schleier darübergelegt.
Dann erhellte sich Andreas Gesicht langsam. »Ich meine ...
ich meine, ich verabscheue ihn ...«, flüsterte er.
»Wen, Vater?« fragte Tonio. Er war entsetzt. Irgend etwas passierte gerade, irgend etwas Schreckliches.
»Den Karneval, den Karneval«, stammelte Andrea mit bebenden Lippen. Er legte seine Hand auf Tonios Schulter. »Ich bin... ich bin... ich muß ...«
»Vater, kommst du bitte mit hinunter?« fragte Tonio vorsichtig.
Da ging direkt vor seinen Augen eine häßliche Veränderung in seinem Vater vor. Er sah, wie sich seine Augen weiteten, er sah den Mund zucken.
»Was machst du hier!« flüsterte Andrea. »Wie bist du ohne meine Erlaubnis in dieses Haus gekommen?« Er hatte sich in ungeheurem vernichtenden Zorn aufgerichtet.
»Vater!« flüsterte Tonio. »Ich bin es doch... Tonio.«
»Ach!« Sein Vater hatte die Hand erhoben. Sie verharrte in der Luft.
Dann folgte ein Augenblick voll unendlicher Qual, in dem er wieder zu sich kam.
Andrea starrte seinen Sohn beschämt und verlegen an. Seine Hand zitterte, sein Mund bebte. »Ach, Tonio«, sagte er. »Mein Tonio.«
Eine Weile schwiegen sie beide. Im Korridor flüsterte jemand, dann wurde es still.
»Vater, komm hinunter ins Bett«, sagte Tonio.
»Nein, noch nicht. Es
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