Falsetto
seinen Schülern hin und wieder, wenn nicht sogar immer gehaßt.
Die Leiter des Conservatorio liebten ihn jedoch.
Wenn es irgendeinem Menschen möglich war, eine Stimme zu
»erschaffen«, dann war Guido dieser Mensch. Immer wieder sahen sie mit Erstaunen, wie es ihm gelang, einem Schüler, dem Originalität und Begabung fehlten, musikalisches Können und künstlerisches Gespür zu vermitteln. Zu ihm schickten sie die Dummköpfe und jene bemitleidenswerten kleinen Jungen, die kastriert worden waren, lange bevor sich herausstellte, daß ihre Stimmen nichts taugten.
Guido machte sie zu annehmbaren, geschickten und nicht unangenehmen Sopranen.
Doch Guido verabscheute diese Schüler. Ihre mageren Erfolge vermochten ihn auf Dauer nicht zu befriedigen. Die Musik als solche war ihm weit wertvoller als er sich selbst, deshalb war ihm Stolz auch unbekannt.
Die Qual und die Monotonie seines Lebens trieben ihn dazu, sich immer mehr dem Komponieren zu widmen. Dies hatte er all die Jahre, in denen er von einem Leben als Sänger ge-träumt hatte, vernachlässigt, so daß andere ihn überholt hatten und bereits erleben durften, wie ihre Oratorien und sogar ihre Opern aufgeführt wurden.
Seine Maestros erwarteten nicht, daß er es auf diesem Gebiet zu etwas bringen würde, vielmehr tadelten sie ihn dafür, wenn er nach seiner täglichen Arbeit noch bis weit in die Nacht an seinen Kompositionen arbeitete.
Zweifel kannte er jedoch nicht. Er hinkte zwar mit seinem Können weit hinterher, aber er ließ sich keinen Augenblick beirren. Lieber verzichtete er eine Nacht auf seinen Schlaf, damit er durcharbeiten konnte. Oratorien, Kantaten, Serena-den, ganze Opern brachte er zu Papier. Er wußte, daß es ihm helfen würde, wenn er nur eine einzige begnadete Stimme unter seinen Schülern hätte, denn wenn er dann für diese Stimme komponierte, konnte er jenes Publikum wiederge-winnen, das er als Sänger verloren hatte. Diese Stimme würde seine Inspiration sein, sie würde ihm den Antrieb schenken, den er so nötig brauchte. Dann würden andere kommen, bereit und willens zu singen, was er für sie geschrieben hatte.
An langen Sommernachmittagen jedoch, wenn er die drük-kend schwülen Dissonanzen aus den Übungszimmern nicht länger ertragen konnte, schnallte er sich seinen Degen um, suchte sein einziges ordentliches Paar Schnallenschuhe heraus und ging ohne Erklärung hinaus in die geschäftige Stadt.
In nur wenigen Hauptstädten Europas wimmelte es von so vielen unterschiedlichen Nationen, wie das bei dem großen Seehafen von Neapel der Fall war.
Die Straßen der Stadt, denen der neue Bourbonenhof Prunk und Glanz verliehen hatte, waren von allen Arten von Menschen regelrecht überflutet. Sie waren gekommen, um das herrliche Ufer, die prächtigen Kirchen, Schlösser und Paläste, die schwindelerregende Schönheit des umgebenden Festlandes und der Inseln zu sehen. Und über alldem ragte vor dem diesigen Himmel drohend der ungeheure Koloß des Vesuvs auf, während sich die weite See bis zum Horizont erstreckte.
Doch in diesem Paradies, wo Blumen in den Mauerritzen blühten und Weinberge die Hänge überzogen, herrschte Armut.
Die ruhelosen Lazzaroni - Kleinbauern, Müßiggänger, Diebe -
streiften ziellos umher, mischten sich unter die Anwälte, die Beamten, die feinen Herren und Damen, die Mönche in ihren braunen Kutten oder saßen auf den Stufen der Kathedralen.
Guido, der im Gedränge hin- und hergestoßen wurde, beobachtete alles mit stummer Faszination. Er konnte die Brise, die vom Meer her wehte, spüren.
Stämmig und mit breiten Schultern, wirkte Guido in seinem schwarzen Rock und den bespritzten, staubigen Hosen und Strümpfen nicht wie ein Musiker oder ein junger Komponist und schon gar nicht wie ein Eunuch. Vielmehr sah er aus wie ein heruntergekommener Gentleman, da seine Hände so sauber wie die einer Nonne waren und er genügend Geld in der Tasche hatte, um zu trinken, was immer er wollte.
In einer der Klausen setzte er sich dann an einen der specki-gen Tische und lehnte sich mit dem Rücken an ein Geflecht aus Weinranken, ohne das Summen der Bienen und den Duft der Blüten richtig wahrzunehmen. Während er zusah, wie sich über den tiefblauen Himmel sanft ein rosiger Schleier legte, spürte er, wie der Wein seine Qual linderte. Gleichzeitig gestattete der Wein der Qual jedoch auch, sich zu entfalten.
Tränen stiegen ihm in die Augen und verliehen ihnen einen gefährlichen Schimmer. Seine Seele schmerzte, und
Weitere Kostenlose Bücher