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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sein Elend erschien ihm unerträglich.
    Aber er begriff nicht ganz, woher dieser Schmerz rührte.
    Er wußte nur, daß er sich jene leidenschaftlichen und begabten Schüler wünschte, denen er das volle Maß seiner Schöp-ferkraft zukommen lassen konnte. Und er hörte im Geiste, wie jene Sänger die Arien, die er für sie geschrieben hatte, zum Leben erweckten.
    Denn sie waren es, die seine Musik auf die Bühne und in die Welt hinaustragen mußten, sie waren es, die Guido Maffeos Hoffnung, einmal Unsterblichkeit zu erlangen, Wirklichkeit werden lassen konnten.
    Dennoch fühlte er sich auch unerträglich einsam.
    Es war, als wäre seine Stimme seine Geliebte gewesen und als hätte sie ihn verlassen.
    Als er sich den jungen Mann vorstellte, der so singen konnte, wie ihm das selbst nicht mehr möglich war, jenen Schüler, dem er all sein Wissen anvertrauen konnte, sah er damit auch das Ende seiner Isolation gekommen. Endlich würde er jemanden haben, der ihn verstand, jemand, der wußte, was er tat! All die Unterschiede zwischen den Bedürfnissen seiner Seele und den Bedürfnissen seines Herzens würden sich in nichts auflösen.
    Sterne sprenkelten den Himmel, schimmerten durch die Wol-kenschleier, die wie Nebel von der See aufgezogen waren.
    Und weit, weit weg, verloren in der Dunkelheit, stieß der Berg plötzlich einen Blitzstrahl aus.
    Aber die vielversprechenden Stimmen blieben Guido verweigert. Er war noch zu jung, um für sie als Maestro interessant zu sein. Die berühmten Gesangslehrer wie Porpora, der der Lehrer von Caffarelli und von Farinelli gewesen war, zogen die begabten Schüler an.
    Mit sechsundzwanzig, als er an dem, was ihm an Schülern unterkam, verzweifelte, bat er seine Vorgesetzten um einen kleinen Zuschuß und um die Erlaubnis, sich in Italien auf die Suche nach neuen Stimmen machen zu dürfen.
    »Vielleicht findet er etwas.« Maestro Cavalla zuckte mit den Achseln. »Immerhin braucht man sich nur anzusehen, was er bislang geschaffen hat!« Sie waren traurig, daß er so lange fort sein würde, gaben ihm aber nichtsdestotrotz ihren Segen.

    18

    Sein ganzes Leben lang hatte Tonio von diesem herrlichen sommerlichen Zwischenspiel, das Villeggiatura genannt wurde, nur gehört. Jeden Abend würden sie ausgiebig speisen, für jeden Gang würden silberne Gedecke aufgelegt, und hinterher würden sie einen gemütlichen Ausflug auf der Brenta machen.
    Die ganze Zeit über würden Musiker kommen und gehen. Vielleicht würden Tonio und Marianna sogar selbst ab und zu etwas spielen, wenn gerade einmal keine Berufsmusiker da waren. All die Familien würden ihr eigenes kleines Orchester bilden, denn da gab es Leute, die meisterlich Violine spielten oder Kontrabaß, es gab Senatoren, die ebenso begabte Cembalospieler waren wie nur irgendein bezahlter Musiker. Man würde die Mädchen aus den Musikschulen einladen. Man würde an der frischen Luft Spazierengehen, Picknicks im Gras veranstalten, reiten, zum Zeitvertreib fechten, und in den gro-
    ßen, weiten Gärten würden Lampions brennen.
    Tonio packte all die alten Notenblätter ein und fragte sich dabei flüchtig, was für ein Gefühl es wohl sein würde, in einem Raum zu singen, der voller Leute war. Marianna erinnerte ihn mit einem nervösen Lachen an die Befürchtungen, die er ihretwegen hatte (»mein schlimmes Benehmen!«). Dessen un-geachtet verwirrte es ihn, sie in Korsett und Hemd in ihrem Zimmer herumwandern zu sehen, während Alessandro mit einer Tasse Schokolade danebensaß.
    An dem Morgen aber, an dem sie aufbrechen sollten, klopfte Signore Lemmo an Tonios Tür.
    »Ihr Vater...«, stammelte er. »Ist er bei Ihnen?«
    »Bei mir, aber nein. Wie kommen Sie denn darauf?« fragte Tonio.
    »Ich kann ihn nicht finden«, flüsterte Signore Lemmo. »Niemand kann ihn finden.«
    »Aber das ist doch lächerlich«, sagte Tonio.
    Binnen Minuten merkte Tonio jedoch, daß der Haushalt in Aufruhr war. Alle suchten Andrea. Marianna und Alessandro, die bereits an der Haustür mit den Koffern warteten, erhoben sich unverzüglich, als er ihnen davon erzählte.
    »Sind Sie schon unten im Archiv gewesen?« wollte Tonio wissen.
    Signore Lemmo ging sofort nachsehen, nur um dann zu berichten, daß das untere Stockwerk wie immer verlassen war.
    »Und was ist mit dem Dachgeschoß?« sagte Tonio. Diesmal aber wartete er nicht, bis irgend jemand anderer nachsehen ging. Er hatte das Gefühl, daß er seinen Vater genau dort finden würde. Er wußte nicht, warum das so war, aber als

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