Falsetto
den Augen folgte.
Sie verlebte eine so wunderbare Zeit, und Tonio liebte es, sie einfach zu beobachten. Jetzt stand sie nicht mehr, den Blick voller Mißtrauen, in der Ecke, jetzt tanzte sie sogar mit Alessandro.
Natürlich wurde Alessandro von allen vergöttert. Er schien in seiner feinen Kleidung die Einfachheit selbst zu sein, dennoch wirkte er so erhaben und so voller Anmut, daß Tonio eine ungeheure Zuneigung für ihn empfand.
Wenn sie dann spät nachts wieder daheim waren, unterhielten sich die beiden miteinander.
»Ich fürchte, Sie werden unser Haus bald langweilig finden«, hatte Tonio einmal gesagt.
»Exzellenz!« lachte Alessandro. »Ich bin nicht in einem herrlichen Palazzo aufgewachsen.« Sein Blick schweifte über die hohe Decke seines neuen Zimmers, die schweren grünen Bettvorhänge, den geschnitzten Schreibtisch und das neue Cembalo. »Wenn ich hundert Jahre hier gewohnt habe, dann fange ich vielleicht an, es langweilig zu finden.«
»Ich möchte, daß Sie für immer hier bleiben, Alessandro«, hatte Tonio gesagt.
Nachts kniete er vor der Madonna in seinem Zimmer nieder und betete: »Bitte, bitte, laß das alles niemals enden. Laß es für immer so weitergehen.«
Aber es war schon fast Sommer. Über der Stadt lag bereits eine erstickende Hitze. Bald würde der Karneval in sich zu-sammenfallen wie ein Kartenhaus. Dann würden sich alle gro-
ßen Familien zur Villeggiatura, zum Landaufenthalt in ihre Villen an der Brenta, zurückziehen. Niemand wollte in der Nä-
he der stinkenden Kanäle, der nicht endenden Mücken-schwärme bleiben.
Und wir werden hier wieder allein sein, o nein, bitte, nein!
Als er die verbleibenden Tage schon an einer Hand abzählen konnte, kam Alessandro eines Morgens zusammen mit den Dienern, die die Schokolade und den Kaffee brachten, in Tonios Zimmer und setzte sich zu ihm ans Bett.
»Dein Vater ist sehr zufrieden mit dir«, sagte er (die förmliche Anrede hatte er auf Tonios Beharren schon lange fallengelas-sen). »Er hört von allen Seiten, daß du dich absolut tadellos verhältst.«
Tonio lächelte. Er hätte seinen Vater gerne gesehen, aber Signor Lemmo hatte ihm schon zweimal gesagt, daß das nicht möglich sei. Es schien, als würde eine ungewöhnliche Zahl von Leuten bei ihm ein- und ausgehen. Tonio wußte, daß einige dieser Männer Rechtsanwälte waren, andere waren alte Freunde. Es gefiel ihm nicht.
Warum aber hatte er geglaubt, daß auf jene lange Nacht voller Vertrautheit noch viele weitere Gespräche folgen würden?
Sein Vater gehörte dem Staat, jetzt nicht weniger als früher.
Wenn sein Knöchel nicht richtig verheilte und er das Haus nicht so ohne weiteres verlassen konnte, dann mußte der Staat eben zu ihm kommen. Und genau das schien der Fall zu sein.
Aber Alessandro wollte auf etwas anderes hinaus.
»Hast du schon einmal die Villa Lisani bei Padua gesehen?«
fragte er.
Tonio hielt den Atem an.
»Gut, dann pack deine Sachen ein. Wenn du keine Reitklei-dung hast, dann laß Giuseppe den Schneider holen. Dein Vater möchte, daß du den ganzen Sommer dort verbringst. Deine Cousine freut sich schon auf dich. Aber, Tonio«, sagte er,
»überleg dir ein paar Fragen, die du deinen Hauslehrern stellen kannst. Sie fühlen sich überflüssig und haben Angst, entlassen zu werden. Natürlich werden sie das nicht. Sie kommen mit uns. Aber denk daran, gib ihnen das Gefühl, wichtig zu sein.«
»Wir besuchen die Villa Lisani!« Tonio sprang auf und umarmte Alessandro stürmisch.
Alessandro mußte einen Schritt nach hinten machen, aber seine großen, trägen Hände streichelten Tonio sanft über den Kopf, strichen ihm das Haar aus der Stirn.
»Sag es niemandem«, flüsterte er, »aber ich bin ebenso aufgeregt wie du.«
17
Guido blieb, als die Schnittwunden an seinen Handgelenken verheilt waren, weiter in dem Conservatorio, in dem er aufgewachsen war, und widmete sich mit einer solchen Strenge der Lehrtätigkeit, daß es nur wenige Schüler bei ihm aushielten. Er besaß Genialität, aber kein Mitgefühl. Als er zwanzig Jahre alt war, waren bereits mehrere bemerkenswerte Schüler aus seiner Schule hervorgegangen und sangen nun in der Sixtinischen Kapelle.
Es waren Kastraten, die es ohne Guidos Ausbildung und ohne seinen Instinkt vielleicht nicht besonders weit gebracht hätten.
Aber so dankbar sie ihm auch waren, so froh waren sie, den jungen Maestro, vor dem sie sich alle fürchteten, verlassen zu können. Im Grunde wurde Guido von allen
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