Falsetto
davor gestanden, das zu verneinen, als er innehielt. Einen Augenblick lang schien es, als würde er die Frage nicht verstehen.
»Wenn sie das Mädchen war, das Carlo zurückgewiesen hat, dann wird das Leben für sie hier unerträglich werden...«
Alessandro schwieg einen Moment. »Sie war nicht das Mädchen, das er zurückgewiesen hat«, antwortete er leise.
Das Haus war dunkel, das Haus war leer. Es war voller fremder Geräusche.
Er stieg die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf.
Er wußte, daß Carlo in seinem früheren Zimmer war. Er konnte das ungewohnte Tageslicht sehen, das sich von dort in den staubigen Gang ergoß.
An diesem Morgen hatte sein Bruder beim Frühstück nach ihm gefragt, hatte dann seine türkischen Diener geschickt, um ihn zu sich nach unten zu bitten. Tonio aber hatte im Bett gesessen, den Kopf in die Hände gestützt, und all diesen fremden Gesichtern Entschuldigungen entgegengemurmelt.
Jetzt schlich er rasch auf Zehenspitzen dahin, bis er an der Tür stand und sah, wie sein Bruder zwischen all dem Zerfall und dem Moder umherging. Das Bett war nur noch ein Gerüst aus Staub und Lumpen. In der Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch, das vom Regen ganz aufgequollen war. Carlo las leise flüsternd und in einem schleppenden Rhythmus. Der blaue Himmel hinter ihm wurde von den schmutzigen Scheiben verdunkelt, und es schien, als würde der Ton seines Flü-
sterns zu diesem Ort gehören. Er sprach die Worte jetzt lauter, aber immer noch wie zu sich selbst, während er dabei mit der rechten Hand kleine Gesten vollführte.
Dann sah er Tonio. Sein Gesicht erhellte sich, um seine Augen zeigten sich Fältchen, als er lächelte. Er klappte das Buch zu und legte seine rechte Hand auf den Einband.
»Komm herein, kleiner Bruder«, sagte er. »Du siehst, ich bin...
nun, in Verlegenheit. Ich kann dich leider nicht bitten, dich zu mir zu setzen hier in meinen alten Gemächern.«
Das war nicht ironisch gemeint, dennoch schoß Tonio das Blut ins Gesicht. Er blickte beschämt zu Boden, unfähig, seinem Bruder zu antworten.
Warum hatte er die Diener nicht sofort hier heraufgeschickt, um das Zimmer vorbereiten zu lassen? Warum hatte er nicht daran gedacht? Großer Gott, er war doch seit einer kleinen Weile Herr dieses Hauses, oder nicht? Wer hätte denn sonst die Anweisung geben sollen, wenn nicht er? Er starrte die fleckigen und abblätternden Wände an, den kaputten Teppich.
»Ach, aber du siehst, welche Liebe hier an mich verschwendet wurde«, seufzte Carlo. Er legte das Buch weg, während sein Blick über die Risse an der Decke wanderte. »Du siehst, daß meine Schätze für mich verwahrt wurden, daß meine Kleidung vor den Motten geschützt wurde, meine Bücher an trockenen und sicheren Plätzen gelagert wurden.«
»Vergeben Sie mir, Signore!«
»Und wofür?« Carlo streckte seine Hand aus. Als Tonio zu ihm ging, schloß Carlo ihn in die Arme. Wieder spürte Tonio diese Wärme, diese Stärke. Und irgendwo in einem versteck-ten Winkel seines Bewußtseins formte sich der Gedanke: So werde ich aussehen, wenn ich einmal ein Mann bin. Ich sehe die Zukunft, wie es nur wenigen gestattet ist, sie zu sehen.
Sein Bruder küßte ihn sanft auf die Stirn.
»Was hättest du denn tun können, kleiner Bruder?«
Er wartete die Antwort nicht ab. Er hatte das Buch wieder ge-
öffnet und fuhr mit der Hand über die sich auflösenden Buchstaben. The Tempest, in englischer Sprache. Seine Stimme verfiel wieder in jenes rhythmische Flüstern.
»Full fathom five thy father lies.. .« Als er wieder aufsah, schien er von Tonios Anblick ausgesprochen verwirrt.
Was ist los, was siehst du? Verachtest du mich? dachte Tonio.
Das verwahrloste Zimmer bedrückte ihn, der Staub schien ihn zu ersticken. Zum ersten Mal bemerkte er jetzt , wie sehr es hier nach Moder stank.
Sein Bruder aber blickte ihn mit seinen schwarzen Augen weiter unverwandt an. Er schien sich dessen gar nicht bewußt zu sein.
»Das erste Kind des Ehebundes«, flüsterte Carlo. »Ein Kind, geboren auf der Höhe der Leidenschaft. Gesegnet mit allen Gaben, so sagt man, dieses erste Kind.« Jetzt runzelte er die Stirn, und seine Mundwinkel verspannten sich ein ganz klein wenig.
»Aber damals war ich der letzte vom Blute meiner Eltern«, fuhr er fort, »und wir beide sind uns so ähnlich. Da gibt es doch keine Regel, oder? Erstes Kind, letztes Kind, außer dem, was der Vater für das erste Kind empfindet!«
»Bitte, Signore, ich verstehe nicht, was Sie
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