Falsetto
Das waren hier so ungewohnte Geräusche, daß sie ein Eigenleben zu haben schienen. Tonio spähte durch einen Türspalt in Carlos Zimmer und sah weiße Perücken auf polierten Holzköpfen in einer Reihe stehen. Im Geiste hörte er Andrea flüstern: geckenhaft.
»Kleiner Bruder, komm und iß heute mit mir zu Abend.« Er schien manchmal aus den Schatten aufzutauchen, so als hätte er dort gelauert.
»Bitte vergeben Sie mir, Signore, ich bin nicht in der rechten Gemütsverfassung dazu, mein Vater...«
Irgendwo hörte Tonio deutlich seine Mutter singen.
Es war später Nachmittag. Alessandro saß so still am Tisch in der Bibliothek, daß er wie eine Statue wirkte. Schwere Schritte ertönten auf der Treppe. Durch die offenen Flügeltüren schwebte ihre Stimme herein. Sie sang jenes melancholische Lied, das wie ein Kirchenlied klang. Als Tonio sie jedoch gefunden hatte, da war sie gerade dabei, zu gehen.
Das Gebetbuch in der Hand, schlug sie den Schleier übers Gesicht, als wolle sie ihn nicht ansehen. »Lena wird mit mir gehen«, anwortete sie. Heute brauchte sie Alessandro nicht.
»Mamma.« Tonio folgte ihr zur Tür. Sie summte irgend etwas vor sich hin. »Sag, bist du hier jetzt zufrieden?«
»Oh, warum fragst du mich das!« Ihre Stimme klang ganz unbeschwert, ihre Hand jedoch schoß unter dem dünnen schwarzen Spitzengewebe hervor, um ihn ins Handgelenk zu kneifen. Tonio spürte kurz einen Schmerz und war wütend.
»Wenn du hier nicht glücklich bist, dann könntest du bei Catrina wohnen«, sagte er und fürchtete dabei, daß sie diesen Vorschlag tatsächlich annehmen würde.
»Ich bin im Hause meines Sohnes«, sagte sie. »Öffne er die Türen«, wies sie den Pförtner an.
Nachts lag er wach und lauschte in die Stille. Die Welt vor seiner Tür schien wie ein unbekanntes Land. Flure, Zimmer, die er kannte, selbst die feuchten und vernachlässigten Räume, waren ihm fremd geworden. Unten erscholl Gelächter.
Irgendwo draußen in der Nacht rief eine Frau etwas. Es klang sarkastisch, unbeherrscht. Er drehte sich in seinem Bett um und schloß die Augen. Da erkannte er, daß das Rufen von innerhalb dieser Mauern gekommen war.
Er hatte geschlafen. Er hatte geträumt. Als er seine Zimmertür öffnete, konnte er die beiden unten hören. Wieder der alte Wortwechsel, Catrinas Stimme war hoch und schrill. Weinte er?
Es war früher Abend. Der entfernte Lärm des Karnevals vermischte sich mit den Geräuschen der Nacht. Im Palazzo Tri-mani nebenan fand ein Ball statt. Tonio stand allein im langen Speisezimmer am Fenster, hatte den schweren Vorhang zur Seite geschoben und beobachtete die Boote, die den Kanal hinauf- und hinabfuhren, hinauf und hinab.
Er sah seine Mutter auf dem Kai vor dem Haus, Lena und Alessandro standen hinter ihr. Mariannas langer schwarzer Schleier, der bis hinunter zum Saum ihres Kleides reichte, wurde vom Wind nach hinten geblasen, so daß sich das zarte Gewebe eng über ihr Gesicht legte und es wie eine Skulptur erscheinen ließ. Sie wartete auf die Gondel.
Aber war er in diesem Haus?
Der Große Salon war ein Meer aus pechschwarzer Dunkelheit.
Während Tonio noch das Schweigen und die Stille dieses Augenblicks genoß, hörte er schon die ersten Geräusche. Jemand bewegte sich in der Dunkelheit, dann nahm er das nach Moschus riechende, orientalische Parfüm wahr, das Quietschen der Tür, sachte Schritte auf dem Steinboden hinter sich.
Gefangen auf offenem Meer, dachte er. Der Kanal schimmerte, der Himmel über der fernen PiazzaSan Marco glühte.
Seine Nackenhaare stellten sich ein klein wenig auf, und er spürte den leisen Lufthauch, den der Mann, der nun neben ihn getreten war, mitbrachte.
»Früher«, flüsterte Carlo, »trugen alle Frauen solche Schleier, und sie waren schöner als heute. Sie hatten etwas Geheimnisvolles an sich, wenn sie durch die Straßen gingen, etwas Orientalisches ...«
Tonio blickte langsam auf. Sein Bruder stand so nahe bei ihm, daß sie einander hätten berühren können. Das Schwarz von Carlos Rock wurde von einem Streifen aus schimmernder weißer Spitze geteilt, die weniger ein Stoff, sondern eher eine blasse Fata Morgana zu sein schien. Seine Perücke mit den perfekten Locken über den Ohren und dem auf so natürliche Weise angepaßten Haaransatz, daß sie wie echtes Haupthaar wirkte, strahlte ein leichtes Schimmern aus.
Er trat näher ans Fenster und blickte zum Wasser hinunter, und wieder war Tonio über die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden
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