Falsetto
sagen!«
»Nein, warum solltest du auch?« sagte Carlo. Seine Stimme war so ruhig wie zuvor, freundlich und ohne Groll. Erstaunt sah er Tonio an, so als gefiele es ihm, ihn anzusehen. Tonio fühlte sich unter seinem Blick kraftlos und elend.
»Verstehst du dann wenigstens das hier?« fragte Carlo. »Sieh dich um.« Da war unterschwellig wieder jenes schreckliche Brüllen, jenes Brüllen, das versuchte, durch die Sprache durchzubrechen.
»Signore, bitte, lassen Sie mich die Diener anweisen, dieses Zimmer hier zu säubern...«
»Ach, das willst du tun? Natürlich, du bist hier ja der Hausherr, nicht wahr?« Seine Stimme klang angespannt und dünn.
Tonio sah seinen Bruder forschend an. Carlo war nicht wü-
tend, er war verletzt. Mit einem hilflosen Kopfschütteln blickte Tonio weg.
»Nein, kleiner Bruder, es ist nicht deine Schuld«, sagte Carlo.
»Und was für ein kleiner Prinz du bist«, sagte er mit freundlicher Aufrichtigkeit. »Wie er dich geliebt haben muß. Aber ich wage zu sagen, daß ich dich ebenfalls lieben würde, wenn ich dein Vater wäre.«
»Signore, zeigen Sie uns einen Weg, wie wir einander lieben können!«
»Aber ich liebe dich doch«, flüsterte Carlo. »Und jetzt laß mich hier noch ein wenig allein, bevor ich noch etwas sage, was ich hinterher bereue. Ich bin noch nicht ich selbst, verstehst du?
Ich bin heimgekehrt und mußte feststellen, daß man mich in diesem Haus ermordet und begraben hat. Also durchstreife ich diese Räume, als wäre ich ein Geist, und komme in diesem Bewußtseinszustand gefährlich nahe an die schrecklichsten Gedanken und Worte heran.«
»Ach, bitte, dann verlassen Sie diese Räume doch. Bitte...
SEINE Zimmer im Hauptgeschoß, Signore, Sie können sie haben...«
»Oh, du schenkst mir also diese Zimmer, kleiner Bruder?«
»Signore, ich meinte damit nicht, daß ich sie Ihnen schenke.
Etwas so Respektloses würde mir nicht einfallen. Ich meinte nur, daß Sie sie ganz selbstverständlich haben können.«
Carlo lächelte, blickte auf und ließ dabei das Buch auf den Tisch fallen. Dann nahm er abermals Tonios Kopf in beide Hände. Er war dabei fast grob.
»Oh, warum konntest du nicht irgendein verzogener und arroganter Junge sein?« flüsterte er. »Dann hätte ich ihn wenigstens weiterhin dafür verdammen können, daß er dich so verwöhnt hat.«
»Signore, über diese Dinge dürfen wir nicht sprechen. Wenn wir es tun, dann können wir einander nämlich nicht mehr ertragen.«
»Und Geist, Weisheit und Mut, ja, Mut, das ist es, was du besitzt, kleiner Bruder. Du kommst, um mir gegenüberzutreten und mit mir zu reden. Was sagtest du gerade eben, daß ich dir einen Weg zeigen solle, wie wir einander lieben können?«
Tonio nickte. Er wußte, daß ihm die Stimme versagen würde, wenn er jetzt zu sprechen versuchte. Ganz steif, weil er diesem Mann so nahe war, beugte er sich langsam nach vorn, bis seine Lippen dessen Wange berührten. Da spürte er wieder jenes Seufzen, das sich Carlos Brust entrang, als ihn dieser in die Arme schloß.
»Verzichtet, nein, er hat nicht verzichtet.« Catrina schüttelte den Kopf. Ihre flinken blauen Augen wurden für einen kurzen Augenblick schmal, als sie sich Tonios Hausaufgaben ansah.
Dann gab sie sie Alessandro zurück. Sie hatte eine Leder-mappe mit einem Stoß Blätter bei sich, auf denen stand, welchen Lohn der Koch und der Kammerdiener bekamen, was den Tutoren zu zahlen war, wieviel Lebensmittel eingelagert werden mußten und was sonst noch fehlte.
»Aber du mußt das stillschweigend ertragen«, sagte sie und legte ihre Hand auf die von Tonio. »Und du darfst nichts tun, was ihn provoziert.«
Tonio nickte. Angelo, der, angespannt und ängstlich, irgendwo hinten im Zimmer saß, blickte hier und da von seinem Brevier auf.
»Laß ihn seine alten Freunde um sich sammeln, laß ihn sehen, wer jetzt Einfluß hat und wer welche Ämter bekleidet« -
Catrinas Stimme wurde leise, sie rückte nahe an ihn heran und sah ihm in die Augen - »und laß ihn sein Geld ausgeben, wenn er das will, er hat ein Vermögen nach Hause mitgebracht. Er beklagt sich über die dunklen Vorhänge hier. Er hungert nach venezianischem Luxus, nach französischen Kin-kerlitzchen und hübschen Tapeten. Laß ihn...«
»Ja, ja...«, sagte Tonio.
Jeden Morgen beobachtete Tonio, wie er das Haus verließ, sah ihn mit klimpernden Schlüsseln und rasselndem Degen an der Seite die Treppen hinunterrauschen, während seine Stiefel laut auf dem Marmor klapperten.
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