Falsetto
erschüttert. In dem schwachen Kerzenlicht erschien Carlos Haut makellos. Der einzige Hinweis auf sein Alter waren die Fältchen um seine Augenwinkel, die sich vertieften, wenn sich das für ihn so typische breite Lächeln auf seinem Gesicht zeigte.
Und solch ein Lächeln machte seine Züge jetzt weich, offenbarte eine tiefe Wärme, so als könne es niemals Feindschaft zwischen ihnen geben.
»Abend für abend weichst du mir aus, Tonio«, sagte er. »Laß uns jetzt zusammen speisen. Der Tisch ist gedeckt, das Essen ist fertig.«
Tonio wandte sich wieder dem Wasser zu. Seine Mutter war fort. Der Abend schien trotz des Gewimmels von Booten leer.
»Meine Gedanken sind bei meinem Vater, Signore«, sagte er.
»Ach ja, deinem Vater.« Aber Carlo drehte sich nicht um. Im Dämmerlicht war zu sehen, wie seine stillen türkischen Diener die kleinen Kerzen nahmen, um damit sämtliche Kandelaber anzuzünden, die auf dem Tisch, auf den Truhen unter dem gespenstischen Gemälde standen.
»Setz dich, kleiner Bruder.«
Ich möchte dich lieben, dachte Tonio, ganz egal, was du getan hast. Vielleicht kann man die Wunden ja irgendwie heilen.
Höflich den Kopf neigend, setzte sich Tonio, wie er es in der Vergangenheit so oft getan hatte, an den Kopf der Tafel. Es dauerte nur einen Augenblick, bis er merkte, was er getan hatte. Unverzüglich hob er den Blick, um seinem Bruder ins Gesicht zu sehen.
Sein Herz schlug schneller. Er musterte dieses Lächeln, dieses freundliche Strahlen. Die schneeweiße Perücke ließ Carlos Haut um so dunkler erscheinen, die Schönheit seiner hoch geschwungenen Augenbrauen war um so bemerkenswerter, als er sich nun niedersetzte und Tonio weder erbittert noch tadelnd anstarrte.
»Es herrscht Uneinigkeit zwischen uns«, sagte Carlo. Jetzt schmolz sein Lächeln und machte einem ruhigeren Gesichtsausdruck Platz. »Ganz gleich, wie sehr wir auch vorgeben, es nicht zu sein, wir sind miteinander uneins. Jetzt ist bereits fast ein Monat vergangen, und wir können nicht einmal das Brot miteinander brechen.«
Tonio nickte, Tränen standen in seinen Augen.
»Sie ist unheimlich«, fuhr Carlo fort, »diese Ähnlichkeit zwischen uns.«
Tonio fragte sich, ob ein Mensch spüren konnte, wenn ihm ein anderer stumm zu vermitteln versuchte, daß er ihn liebte.
Konnte Carlo diese Liebe in seinen Augen sehen? Jetzt, da er hier ganz still saß und unfähig war, auch nur die einfachsten Worte zu sagen, wurde ihm zum ersten Mal klar, daß er auf seinen Bruder bauen können wollte. Auf dich bauen, dir vertrauen, deine Hilfe suchen, aber das liegt jenseits des Möglichen. Uneins. Er wollte diesen Raum verlassen, denn er fürchtete sich davor, was sein Bruder ihm in seiner unbekümmerten Eloquenz vielleicht sagen würde.
»Mein hübscher kleiner Bruder«, flüsterte Carlo. »Französische Kleidung«, bemerkte er, während seine dunklen Augen dabei fast unschuldigen Glanz hatten. »Und so eine feine Statur, die hast du von deiner Mutter, denke ich, und ihre Stimme hast du ebenfalls, diesen wunderschönen, wunderschönen Sopran.«
Tonio wandte den Blick ab. Eswar unerträglich. Aber wenn wir jetzt nicht miteinander reden, dann wird die Qual nur noch größer.
»Als sie noch ein Mädchen war«, sagte Carlo, »und im Chor sang, rührte sie uns zu Tränen. Hat sie dir das jemals erzählt?
Ach, wie man ihr huldigte, die Gondolieri liebten sie.«
Langsam wandte ihm Tonio wieder den Blick zu.
»Sie war eine richtige Sirene«, sagte Carlo. »Hat dir das nie jemand erzählt?«
»Nein«, antwortete Tonio voller Unbehagen. Als er auf seinem Stuhl hin- und herrutschte und dann hastig wieder wegsah, spürte er, wie sein Bruder ihn beobachtete.
»Und wunderschön war sie auch, schöner noch, als sie jetzt ist...« Carlo senkte seine Stimme zu einem Flüstern.
»Signore, Sie sprechen besser nicht so von ihr!« Das war Tonio so herausgerutscht.
»Ach, was soll denn passieren« - Carlos Stimme blieb ruhig -
»wenn ich so von ihr rede?«
Tonio sah ihn an. Sein Lächeln veränderte sich, wurde breiter, kälter. Es gibt wenige Dinge, die das Gesicht eines Menschen schrecklicher aussehen lassen, als ein solches Lächeln, dachte Tonio.
Dahinter aber lagen Elend, Aufruhr und Zorn, jene Gefühle, die in dem Brüllen, das Tonio durch die verschlossenen Türen hatte dringen hören, ihren stärksten Ausdruck gefunden hatten. Deshalb war das Lächeln auch nicht wirklich kalt. Es war lediglich verzweifelt und zerbrechlich.
Plötzlich
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