Falsetto
Amtsbrüder mit Ihnen teilen wird: die Verantwortung für die Auslöschung des Hauses Treschi.«
DRITTER TEIL
1
Sie erreichten Ferrara vor Einbruch der Nacht. Tonio hatte das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Von der Kutsche, die über die fruchtbare Ebene dahinjagte, durchgerüttelt, öffnete er zwar von Zeit zu Zeit die Augen, schien aber nichts wahrzunehmen. Als sie in einem kleinen Wirtshaus am Rande der Stadt angelangt waren, trug Guido ihn sofort ins Bett.
Ein Wäldchen aus grünen Zitterpappeln schirmte die kleinen, niedrigen Fenster des Gasthauses ab. Als die Sonne unterging, regnete es immer noch.
Guido besorgte sich eine Flasche Wein. Er steckte eine einzelne Kerze in den Kerzenhalter am Kopfende von Tonios Bett, setzte sich selbst ans Fußende und wartete.
Während der Abend verstrich, nickte er immer wieder ein.
Einmal öffnete er die Augen und wußte nicht, warum er aufgewacht war. Einen Augenblick lang dachte er, er wäre noch in Venedig. Dann fiel ihm alles wieder ein. Blinzelnd blickte er in die winzige Aureole der Kerze, dann stieß er einen Laut des Erstaunens aus.
Tonio Treschi saß, den Rücken an die Wand gelehnt, aufrecht im Bett. Seine Augen wirkten in der Dunkelheit wie zwei glitzernde Schlitze. Wie lange er schon wach war, wußte Guido nicht.
Aber er spürte, daß da eine Gefahr lauerte. Er sagte auf italienisch: »Trink einen Schluck Wein.« Der Junge aber gab keine Antwort.
Guido trank aus seinem Humpen, den er neben sich stehen hatte. Dann holte er die Dokumente aus seinem Koffer hervor und legte sie auf die große weiße Decke vor Tonio hin.
Der Blick des Jungen wanderte langsam nach unten, um die lateinischen Buchstaben anzustarren, aber er las die Dokumente nicht, er blickte sie lediglich an.
Dann sah er zu Guido auf.
Plötzlich war er von seinem Bett aufgesprungen, hatte Guido rückwärts gegen die Wand gestoßen, bevor dieser überhaupt merkte, wie ihm geschah. Er hatte Guido an der Gurgel gepackt, und es kostete diesen all seine Kraft, um ihn von sich zu stoßen. Er versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Der Junge, der offensichtlich wackelig auf den Beinen stand und nicht in der Lage war, sich zu verteidigen, brach, am ganzen Körper zitternd, zusammen. Sein Gesicht lief rot an, er schloß die Augen.
Er leistete keinen Widerstand, als Guido ihn hochzog und gegen die Wand drückte. Seine Lider öffneten sich so langsam, daß es schien, als würde er abermals das Bewußtsein verlieren.
Guido packte ihn mit beiden Händen an den Schultern. Er blickte ihm in die Augen, und was er dort sah, war der Blick des Teufels oder aber des Wahnsinns.
»Hör mir zu«, sagte er leise. »Ich habe nichts mit dem, was man dir angetan hat, zu tun. Der Arzt, der dich verschnitten hat, ist höchstwahrscheinlich schon tot. Diejenigen, die ihn umgebracht haben, hätten mich ebenfalls getötet, wenn ich mich nicht einverstanden erklärt hätte, dich aus dem Veneto wegzubringen. Dich hätten sie genauso getötet. Das haben sie mir jedenfalls zu verstehen gegeben.«
Der Mund des Jungen arbeitete, als würde er auf den Innen-seiten seiner Wangen herumkauen, Speichel sammeln.
»Ich weiß nicht, wer diese Männer waren. Weißt du es?« fragte Guido.
Der Junge spuckte Guido einen solchen Speichelregen ins Gesicht, daß dieser ihn losließ, um seine Augen mit den Händen zu schützen.
Guido ging rückwärts. Er setzte sich auf den Holzstuhl, auf dem er vorher gesessen hatte, und ließ seinen Hinterkopf am Putz der Wand ruhen.
Der Blick des Jungen blieb unverändert, aber sein Körper, der in der Dunkelheit fast zu leuchten schien, hatte heftig zu zittern begonnen. Schließlich war es ein Schlottern.
Als Guido sich erhob, um ihm eine Decke umzulegen, wich Tonio zurück und zischte in venezianischem Dialekt etwas, das wie »Faß mich nicht an« klang.
Guido zog sich wieder zurück. Es schien eine geschlagene Stunde zu vergehen, während der Guido still dasaß und diesen Jungen beobachtete, der nicht ein einziges Mal seinen Gesichtsausdruck veränderte. Nichts änderte sich. Nichts geschah. Dann schließlich gewannen Schwäche und Krankheit die Oberhand, und der Junge rutschte wieder hinunter auf die Matratze. Als Guido die Decke über ihn breitete, war er nicht mehr in der Lage, Widerstand zu leisten, auch nicht, als Guido seinen Kopf anhob und ihm sagte, er solle den Wein trinken, den er ihm gab.
Als er sich wieder hinlegte, wirkten seine Augen, als wären sie aus Glas.
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