Falsetto
kleinste Vergnügen versagt bleiben. Er weigerte sich, bei den anderen Kastraten am Tisch zu sitzen. Er bat höflich, freundlich darum, woanders sitzen zu dürfen.
»Dein Platz ist dort.« Er wich vor der Gestalt, die auf ihn zutrat, der Hand, die ihn an der Schulter schubste, dem entschiedenen »Dein Platz ist dort« zurück.
Er spürte, wie sein Gesicht brannte, brannte. Es konnte un-möglich eine Haut geben, die diesem Feuer standhielt. Die Blicke aller in diesem stillen Raum streiften ihn leicht - »der venezianische Prinz«, soviel verstand er von ihrem neapolitanischen Dialekt -, und jeder wußte genau, was man mit ihm gemacht hatte, daß er einer von ihnen war. Diese geneigten Köpfe, diese verstümmelten Körper. Er gehörte zu diesen Neutren, die keine Männer waren und es niemals sein würden.
»Leg die rote Schärpe an!«
»Das mache ich nicht!«
All das war ein Traum, nichts von alledem geschah in Wirklichkeit. Plötzlich verspürte er den Wunsch, aufzustehen und in den Garten hinauszugehen, aber selbst dieses bißchen Be-wegungsfreiheit auszukosten, war hier verboten. Schweigend saßen die Jungen jeder an seinem angestammten Platz, dann aber hörte er neben sich ein verächtliches Flüstern: »Warum nehmen Sie die Schärpe nicht und stopfen Sie sich in die Ho-se, Signore, dann weiß es niemand!« Er drehte sich hastig um. Wer hatte das gesagt? Das spöttische und verschlagene Lächeln, das er ringsum sah, verschwand plötzlich von den Gesichtern.
Guido Maffeos Tür öffnete sich. Tonio trat ein. Gesegnetes Schweigen herrschte jetzt, selbst wenn er nun zwei Stunden lang in dieses kalte, gefühllose Gesicht blicken mußte, in jene tückischen Augen! Der kastrierte Meister der Kastrierten. Und das Schlimmste war, daß er wußte, genau wußte, was geschehen war und daß dies ein Alptraum für ihn war. Hinter dieser gefühllosen Maske des Zorns lag Wissen.
»Warum starrst du mich so an?«
Warum glaubst du, starre ich dich wohl an? Ich starre dich an, weil ich ein Monstrum bin und weil du ein Monstrum bist, und weil ich sehen möchte, was aus mir einmal werden wird!
Warum schlug er Tonio nicht? Worauf wartete er? Was verbarg sich hinter diesem unwandelbar grausamen Gesichtsausdruck, warum wirkte dieser Mann gleichzeitig so fas-zinierend? Warum kann ich nicht aufhören, ihn anzusehen, obwohl ich es unerträglich finde? Einmal, als Tonio noch ein Kind war, hatte ihm seine Mutter eine Ohrfeige nach der anderen versetzt, hör auf zu weinen, hör auf zu weinen, was willst du in Gottes Namen von mir, hör auf! Als er Guido Maffeo ansah, dachte er, jetzt verstehe ich das zum ersten Mal. Ich kann nicht ertragen, daß du mich ausfragst, laß mich in Ruhe!
Herrgott, wenigstens jetzt laß mich in Ruhe, bitte.
»Setz dich hin. Paß auf und hör zu.«
Jetzt bringt er dieses weißgesichtige Eunuchenmonstrum ins Zimmer. Ich will das nicht hören, das ist Folter. Und er beginnt mit seinen Anweisungen. Er ist kein Narr, der da, vielleicht ist er sogar besser als alle anderen zusammen, aber er wird mich niemals unterrichten.
Um acht Uhr, wenn die letzte Glocke schlug und er so müde die Treppe hinaufschlich, daß er kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen konnte, fiel er dann wieder tief hinein, hinein in die Alpträume innerhalb des Alptraums. Bitte, laß mich nur diese eine Nacht nicht träumen. Ich bin so müde. Ich kann im Schlaf nicht auch noch kämpfen, ich werde noch verrückt.
5
»Was versuchst du damit zu erreichen? Weißt du denn überhaupt, was du willst!«
Guido schritt auf und ab, sein Gesicht war wutverzerrt. Er sperrte die Tür seines Übungszimmers zu und steckte sich den Schlüssel in den Gürtel. »Warum hast du diesen Jungen niedergestochen?«
»Ich habe ihn nicht niedergestochen. Er hat lediglich eine Schnittwunde, er lebt noch!«
»Ja, diesmal lebt er noch!«
»Er ist in mein Zimmer eingedrungen. Er hat mich schikaniert!«
»Und was wird es das nächste Mal sein? Der Maestro hat dir deinen Degen weggenommen, dein Stilett und die Pistolen, die du gekauft hast, aber du läßt dich davon nicht beirren, oder?«
»Nicht, wenn man mich schikaniert, nicht, wenn ich von Peinigern umgeben bin, nein, dann lasse ich mich davon nicht beirren!«
»Begreifst du denn nicht? Du kannst so nicht weitermachen.
Du wirst vom Conservatorio verwiesen, wenn du so weiter-machst! Lorenzo hätte an der Wunde, die du ihm beigebracht hast, sterben können!«
»Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Ach, das treibt
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