Familienalbum
hier drinnen wirklich nicht brauchen. Da hast du dein Briefpapier und den Umschlag.«
»Willst du meinen Brief nicht lesen?«, fragt Gina eisig.
Charles nimmt ihr den Entwurf aus der Hand, überfliegt ihn und gibt ihn wieder zurück. »Gut.«
»Bekommt sie viele Briefe?«
»Zweifelsohne«, sagt Charles. Er ist ganz mit dem Manuskript beschäftigt, den durcheinandergeratenen Seiten.
Gina schweigt eine Weile. Dann fragt sie: »Ist das das Buch, das du gerade schreibst?«
»Mmm.«
»Worum geht es darin?«
»Es geht darum, wie … wie die Menschen mit Kindern und Jugendlichen umgegangen sind, in der Vergangenheit und in verschiedenen Erdteilen.«
»Und wovon handelt dieser Abschnitt da?«
Charles zögert. Er beschließt, sich nicht näher über Beschneidungsrituale in Namibia und anderswo auszulassen. »Ach – davon, wie man in Gesellschaften aufwächst, die anders sind als die unsere.«
»Ich hab darin gelesen«, sagt Gina. »Ich fand es widerlich.« Sie starrt ihren Vater mit kalter Missbilligung an. Charles gerät einen Moment lang aus dem Gleichgewicht und fühlt sich persönlich für diese erschütternden Praktiken verantwortlich. Dann fängt er sich wieder, zieht sich aufs hohe Ross moralischer Überlegenheit zurück und sagt: »Gina, mein Schreibtisch geht dich nichts an. Du schnüffelst mir hier kein zweites Mal herum.«
An der Tür bewegt sich etwas. Beide merken, dass Clare da steht und interessiert zusieht. »Das Essen ist fertig«, meldet sie.
»Gut«, sagt Charles energisch. »Gina, nimm dein Briefpapier und den Umschlag. Clare, du kannst Mum sagen, dass ich gleich komme.«
*
Das Zitronenhähnchen wird nicht kritiklos hingenommen.
»Was ist denn das ?«, will Roger wissen. »Das schmeckt mir nicht.«
»Mir auch nicht«, sagt Clare.
Ingrid befindet das Hähnchen für sehr gut. Andere essen kommentarlos. Paul nimmt sich noch einmal nach, Alison strahlt ihn an. Er lässt deutlich raushängen, dass sein Vater Luft für ihn ist.
Charles merkt nicht, dass er von Paul bewusst ignoriert wird; er hat mit den Jahren eine gewisse Immunität gegenüber dem Verhalten seiner Kinder entwickelt. Sonst könnte er schwer seine Unabhängigkeit bewahren. Das bedeutet nicht, dass er ahnungslos oder lieblos wäre, sondern nur, dass die besonderen Familienumstände einen gewissen Selbsterhaltungswillen erfordern. Alison ist jedenfalls die geschicktere Beifahrerin auf der Achterbahn der Gefühle, die Mutterrolle ist ganz ihre Domäne. Gelegentlich hat er das Gefühl, dass er in ihrem großen Lebensplan nur eine Randfigur ist. Dieses Gefühl wird manchmal sehr stark.
Im Moment beschäftigen ihn Gesellschaften, in denen, wie er gelesen hat, die Betreuung der Kinder eine mehr oder weniger kollektive Aufgabe ist. Der Kibbuz schien ihm schon immer eine höchst vernünftige Einrichtung; das erinnert ihn daran, dass er mehr über Kibbuzim und ihre Grundsätze recherchieren muss. Und dann gibt es noch jene afrikanischen Stämme, in denen alle Frauen auf alle Kinder aufpassen und die Männer ihren wie immer gearteten Beschäftigungen nachgehen, was ebenfalls nach einem gesunden System aussieht. Daneben nimmt sich die jahrhundertealte westliche Praxis, Kinder in individuelle Familieneinheiten auszugliedern, sowohl untauglich aus, da sie ein Sicherheitsnetz von Armen- und Waisenhäusern erfordert, als auch potenziell lebensgefährlich. Das Kind, das mit unfähigen oder grausamen Eltern geschlagen ist, sitzt in der Falle. Charles hat nicht die Absicht, sein Buch zum Vehikel seiner persönlichen Ansichten zu machen; es sollen darin unvoreingenommen verschiedene Gepflogenheiten und Einstellungen erörtert werden. Aber wie er so am Kopfende des Tisches sitzt und, vom Hintergrundlärm seiner Sprösslinge (mehr oder weniger) unbehelligt, seinen Gedanken nachgeht, fällt ihm auf, dass klug ausgewählte individuelle Familienerfahrungen diese Thesen hübsch illustrieren würden. Gleich als Erstes die Tolstois. Die liebe Familie … Ja, so käme Farbe in das Buch, Lokalkolorit und ein passender Kontrast zu den Verhältnissen in Samoa oder den Regenwäldern im Kongo. Wie viele Tolstois hat es gegeben? Hat es der alte Leo auch auf sechs gebracht?
Charles’ Blick schweift den Tisch entlang, über seinen eigenen Nachwuchs hinweg. Er denkt nun über Vererbung nach, über Genpools, über Verwandtschaftsbeziehungen. Sehr wichtig, die Sippe, in archaischen Gesellschaften. Das familiäre Netzwerk konnte darüber entscheiden, ob man oben
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