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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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blieb oder unterging. Im Großbritannien des zwanzigsten Jahrhunderts dagegen wurden familiäre Verpflichtungen durch den Wohlfahrtsstaat ersetzt, ein Sicherheitsnetz für alle, von der Wiege bis zur Bahre. Im Großen und Ganzen ist es nicht mehr notwendig, mit der Mütze in der Hand zum Bruder der Mutter zu gehen. Gene zählen hier und heute viel weniger. Charles betrachtet die Gene, die ihn umschwirren, die Sippe links und rechts von ihm – den schlaksigen Paul, die dunkle, leidenschaftliche Gina, die pubertierende Sandra, Roger und Katie, beide mit Sommersprossen und einer stämmigen Statur, Clare mit ihren strohblonden Haaren. Durchschnittsware, denkt er, kein dominantes Merkmal, ein recht gemischter Posten. In aristokratischen Kreisen gäbe es die vererbte Nase oder die hervorquellenden Augen wie in Lelys Hofporträts. In Namibia die kunstvollen Stammesabzeichen.
    »Warum starrst du mich so an?«, mault Sandra.
    Charles’ Gedanken sind wieder bei den Ritualen. »Wie alt bist du?«
    Alison lacht. »Also wirklich, Charles! Wir haben erst vor zwei Monaten Sandras Geburtstag gefeiert. Sie ist zwölf.«
    »Ich bitte um Entschuldigung. Ich verliere den Überblick. Wenn du in bestimmten Teilen Afrikas aufgewachsen wärst«, sagt er zu Sandra, »dann wären dir ein paar sehr hübsche Narben in die Wangen geritzt worden, als du noch kleiner warst, und ich hätte mich inzwischen wohl längst nach einem Ehemann für dich umgesehen.«
    Paul schnaubt. Katie kichert. Sandra sagt: »Narben! Scheußlich!«
    »Alles nur eine Geschmacksfrage.« Charles sieht seine Töchter prüfend an. »Ihr stoßt euch an der Vorstellung von Narben. Andere wären entsetzt über Jeans, Sportschuhe und« – ein scharfer Blick auf Sandra – »lackierte Fingernägel.«
    Alison sagt: »Sandraschatz, du weißt, dass ich das nicht mag.«
    »Vor allem grüne«, sagt Roger.
    »Klappe«, sagt Sandra. Ihrer Mutter erklärt sie: »Alle machen das, Mum. Alle in meiner Klasse.«
    Charles ist nun bei rituellem Schmuck. Er betrachtet lackierte Fingernägel als westliche Version der in Stammeskulturen üblichen Gesichtsbemalungen, Tätowierungen und kreativen Selbstverstümmelungen, die er im Lauf seiner aktuellen Forschungen kennengelernt hat. Er kommt zu dem Schluss, dass Sandra nur ein atavistisches Bedürfnis auslebt, ihren Körper in ein persönliches Statement zu verwandeln, eine Aussage über ihre Zugehörigkeit und ihre Ziele. Sie verkündet damit, dass sie eine Heranwachsende der westlichen Gesellschaft im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert ist, für die die äußerliche Erscheinung von zentraler Bedeutung ist. Sie malt sich an, wie es junge Menschen seit prähistorischen Zeiten tun; daran kann man kaum Anstoß nehmen. Man muss die Fingernägel als das Symbol akzeptieren, das sie sind. Vielleicht wird er Alison seine Sicht der Dinge später mitteilen.
    Auf das Hähnchen folgt Götterspeise, die sich allgemeiner Zustimmung erfreut, außer bei Charles, der sie zugunsten von Käse und Crackern ablehnt. Der Vormittag geht in den Nachmittag über, die Sonne steht hoch, das Haus ist von Leben gesättigt – vom Duft des Zitronenhähnchens, von achtstimmigem Geplapper (nur Charles schweigt und sinnt über seine diversen Einsichten nach) – und es wird Zeit für die nächste Phase, in der sich alle zerstreuen. Sandra wird mit dem Bus in die Stadt fahren, Gina wird ihren Brief an Mrs. Thatcher schreiben und Hausaufgaben machen, für Alison steht der Supermarkt auf dem Programm, Ingrid geht mit den drei Jüngsten in den nahen Park, zu den Schaukeln und Rutschbahnen. Paul ist frustriert, weil sein bester Freund den ganzen Tag weg ist; er hat vor, draußen rumzuhängen, vielleicht findet sich sonst jemand.
    Charles zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück. Die Haustür schlägt zu. Erster Knall: Sandra. Zweiter Knall: Paul. Dritter Knall: Ingrid und die Kinder. Gina poltert nach oben. Der Hund winselt an der Tür zum Arbeitszimmer, er will zu Charles, aber der beachtet ihn nicht; er ist damit beschäftigt, zu notieren, was ihm beim Essen alles eingefallen ist. Besitzt er eine Tolstoi-Biografie? Nein. Ein weiterer Punkt auf der Liste für den Bibliotheksbesuch am Montag.
    Wieder die Haustür: Alison ist weg.
    Das Haus scheint sich ein wenig zu setzen, der Geräuschpegel schwillt zu relativer Stille ab; man hört einen Plumps, als der Hund sich in der Eingangshalle auf die Seite fallen lässt, die Standuhr tickt. Charles spannt einen Bogen Papier in die

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