Familienalbum
Paradedesserts, eine Baisertorte mit Himbeeren und Sahne. »Natürlich sind die Himbeeren gefroren, aber aus dem eigenen Garten; wir haben diesen Sommer Unmengen geerntet. Ingrid zieht jetzt so viel Obst und Gemüse – uns halten keine Kinder mehr auf Trab, und da hat sie vor ein paar Jahren neue Sträucher gepflanzt, die sind wunderbar ergiebig.«
Clare lehnt die Torte mit einem Seufzer ab, Sahne ist tabu. Roger sagt, in diesem Fall will er bitte ihre Portion auch noch haben. Martin hat das Thema italienische Refugien anscheinend zu Tode geritten und sitzt stumm da. Corinna erinnert an den Brauch in ihrer Kindheit, nach einem Familienessen Spiele zu machen: »Weißt du noch, Charles? Schreibspiele, und an Weihnachten immer Scharaden. Verkleiden und Theater spielen. Jetzt kommt es einem seltsam vor, aber damals haben das immer noch viele Leute gemacht, ein Überbleibsel aus viktorianischer Zeit, die letzten Nachwehen häuslicher Abendunterhaltung. Charles, ich sehe dich noch deutlich vor mir, mit einem Tischtuch drapiert, als römischer Kaiser. Da warst du ungefähr zehn.«
Am Tisch wird gekichert. »Kannst du die Vorstellung bitte wiederholen?«, fragt Roger.
Charles lächelt sanft und kontert: »Und ich erinnere mich, Corinna, wie du im Netzvorhang die Titania gegeben hast.«
Bei diesem Bild muss sich Clare ein hysterisches Gelächter verbeißen. Sie gräbt die Zähne in ihre Serviette.
Paul erhebt die Stimme: »Ich finde, wir sollten nach dem Essen wirklich ein Spiel spielen. Das Kellerspiel.«
Schweigen.
»Auf keinen Fall«, sagt Clare.
»Paul, halt die Klappe, ja?«, sagt Roger.
»Das Kellerspiel?«, fragt Alison. Sie blickt munter in die Runde. »Was war denn das eigentlich, das Kellerspiel? Ihr seid immer alle zusammen hinuntergetrappelt, und ich habe mir Sorgen gemacht, dass ihr euch an dem alten Gerümpel da unten verletzt.«
»Wenn du schon fragst«, sagt Paul, »das Kellerspiel …«
Gina schneidet ihm das Wort ab. »Niemand will nach dem Essen irgendwas spielen. Wir helfen aufräumen, trinken dann Kaffee oder sonst was, und wer mag, darf sich vor den Fernseher lümmeln. Gibt’s noch was von der leckeren Nachspeise, Mum?«
Paul ist ins Abseits abgeschoben. Die Reste der Baisertorte werden verputzt, dann werden mit viel Gescharre Stühle zurückgeschoben, Teller und Gläser eingesammelt. Alison fordert Charles, Corinna und Martin auf, ins Wohnzimmer hinüberzugehen: »Macht es euch gemütlich – Charlesschatz, schau doch bitte nach dem Feuer. Sandra, du kannst die Gläser direkt in die Spülmaschine stellen. Kann mir jemand diese Teller da rüberbringen?« Sie deutet auf den Stapel Limoges-Dessertteller, der auf dem Tisch steht.
Paul nimmt die Teller und torkelt auf Alison zu. Er stolpert. Die Teller rutschen ihm aus den Händen. Alles geht klirrend zu Bruch.
*
Gegen Mitternacht wischt sich Alison im separaten Elternbad, wo niemand sie stört, die Tränen aus dem Gesicht, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Beim ersten Mal hatte sie geweint, weil sie so enttäuscht war, dass Paul ihr nicht gesagt hatte, ob er kommen würde oder nicht; außerdem war sie gereizt, weil ihr Lieblingsküchenmesser verschwunden war und der Vorbereitungsstress sich verschärfte. Jetzt trauert sie um das Limoges-Service; ihr ist gerade erst bewusst geworden, dass Paul betrunken oder sonst was war, und in ihr brodelt jede Menge unterdrückter Ärger und Unbehagen. Sie reibt sich das Gesicht mit dem Waschlappen ab und kehrt ins Schlafzimmer zurück; mit der Rüsche am Ausschnitt ihres langärmligen Nachthemds und den lose um die Schultern fallenden Haaren wirkt sie ein wenig mädchenhaft.
Charles sitzt im braunen Schlafanzug auf der Bettkante und stöbert den Bücherstapel auf dem Nachttisch durch.
Alison geht zum Frisiertisch hinüber und bürstet sich die Haare. »Ein Fasan mehr wäre gut gewesen«, sagt sie. »Aber das Dessert ist gut angekommen, und Corinna möchte das Rezept für die Lachspastete haben.«
»Dein üblicher gastronomischer Triumph«, sagt Charles, wählt ein Buch aus und legt sich ins Bett.
Alison dreht sich um. »Und Paul war betrunken, und fast alle Limoges-Desserteller sind kaputt, und Corinna ist so herablassend, und wir sind fünfundzwanzig Jahre verheiratet.«
»Wie recht du hast«, sagt Charles. »Und das in sämtlichen Punkten.«
»Warum?«
Er legt den Finger ins Buch und sieht sie über den Brillenrand hinweg an. »Warum was?«
»Warum sind wir verheiratet?«
Kurzes
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