Familienalbum
und erfolgreich durchsteht, gewinnt an Ansehen; den anderen macht das Zuschauen Spaß, und der Gedanke, dass es beim nächsten Mal sie selbst treffen könnte, bereitet einen angenehmen Kitzel.
Es gibt auch einen Fluchtweg. Jeder kann sich weigern, eine Strafaufgabe anzunehmen, kassiert dann aber einen Strafpunkt. Er verliert das Gesicht, und sein Punktestand wird mit Kreide auf die Tafel geschrieben und verewigt. Clare hat das nie so recht begriffen, ihr Punktestand ist zweistellig, obwohl ihre Strafaufgaben auf sie zugeschnitten sind. »Nein«, sagt sie. »Ich will keinen Purzelbaum machen. Jetzt nicht.«
Ständig wird nach neuen Strafaufgaben gesucht. Gegen etliche Vorschläge von Paul, bei denen Streichhölzer und Feuerzeuge eine Rolle spielten, wurde ein Veto verhängt; hier scheint ein Urinstinkt am Werk, die Sorge um Sicherheit und Gesundheit.
*
»Zeig sie uns!«
»Sie ist in meiner Faust«, sagt Sandra. »Wenn ich sie euch zeige, läuft sie mir davon.«
»Wie groß ist sie?«, will Roger wissen.
Katie ist bedrückt. »Ich finde es grausam. Das ist wirklich grausam für die Spinne.«
Paul sagt: »Ich glaube, du hast gar keine.«
Sandra mustert ihn kühl. »Dann glaub das halt«, sagt sie. Sie hebt die geschlossene Hand an den Mund und öffnet sie. Sie schluckt, würgt dramatisch und starrt die anderen triumphierend an.
Gina begreift, dass sie es niemals wissen werden. Hat Sandra, oder hat sie nicht?
*
Der Reiz des Kellerspiels liegt in seiner Heimlichkeit und dem privaten Raum, den es den Kindern verschafft. Oben wird es nie erwähnt, kein Erwachsener weiß, was sich da abspielt. Falls jemand merkt, dass die Kinder in den Keller verschwinden, sagt Paul, Gina oder Sandra beiläufig: Ach, wir gehen runter und lesen den Kleinen vor. Mit Lesen ist in Allersmead stets Lob zu ernten. Oder: Wir richten da unten ein Museum ein (kreativ, kulturell, gut). Oder: Wir haben gedacht, wir räumen ein bisschen auf (das verdient wirklich Anerkennung). Alison ist der Keller egal, sie geht so gut wie nie hinunter. Charles weiß vielleicht gar nicht, dass es ihn gibt.
Der Keller ist das Reservat der Kinder. Und das Kellerspiel ist ein Paralleluniversum, in das sie sich gelegentlich zurückziehen. Es hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun; sie haben die Freiheit, sich in andere Personen zu verwandeln, auch wenn das Spiel weiter durch ihre oberirdische Rolle und Persönlichkeit geprägt und inspiriert wird. Paul ist immer noch der Älteste und deshalb befugt, seine Autorität auszuspielen. Gina liefert die ergiebigsten Ideen und ersinnt Handlungen und Requisiten. Katie und Roger bleiben ein Zweierteam und spielen gern Rollen, in denen sich das niederschlägt. Sandra ist eigensinnig und unabhängig; wenn sie Lust hat, das Boot zum Kentern zu bringen, dann tut sie es. Und Clare ist manchmal eine Bürde, ein unbeherrschbares Element.
*
Heute ist das Familienspiel an der Reihe. Gina ist die Mutter. Paul hat einen Bison geschossen, deshalb hat Gina Bisonwürstchen und Kartoffelbrei gemacht, und jetzt ist die Geschichte an der Reihe. »Sitzt ihr alle bequem?«, fragt Gina.
Sandra stöhnt und wird mit Blicken erdolcht.
Die Geschichte fängt an. Sie handelt von sechs Kindern, die gespenstisch vertraut klingen. Die anderen lächeln und stoßen sich an. Es gibt eine Episode, in der sie durch den Ärmelkanal schwimmen; Clare ertrinkt fast, Roger rettet sie heldenhaft. Und dann nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung. Alle sind erwachsen. Katie hat acht Kinder. Roger ist Pilot bei British Airways. Clare ist ein Popstar. Paul ist Premierminister (hier bricht große Heiterkeit aus). Sandra … Sandra ist Oberlehrerin.
»Das bin ich auf keinen Fall«, sagt Sandra. »Nie im Leben!«
Gina bleibt hart. »In der Geschichte schon.«
»Dann steige ich aus der Geschichte aus«, sagt Sandra.
Paul sagt, dass das nicht geht. Paul ist streng, was Regeln betrifft.
Sandra zuckt mit den Achseln. »Du kannst deine Oberlehrerin ja haben, wenn du willst, aber ich bin das nicht. Und überhaupt, wer bist denn du?«
Gina sagt, dass sie Schriftstellerin ist. Sie erzählt die Geschichte.
»Dann kannst du keine sehr gute Schriftstellerin sein«, sagt Sandra. »Es ist doch klar, dass jemand wie ich nie Oberlehrerin wird.«
Gina wird zornig. »In der Geschichte bist du’s aber. Außerdem weißt du gar nicht, wie du sein wirst, wenn du erwachsen bist.«
»Weißt du was?«, sagt Sandra lässig. »Du hast dir diesen Oberlehrerinnenscheiß
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