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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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stöhnen, rollen mit den Augen. Nur wenn sie es – wie Sandra – zu weit treiben, wird eine Strafaufgabe fällig.
    Gina ist eine sonderbare Mutter. Sie kocht nicht; die Mahlzeiten werden aus der Luft herbeigehext und mit Genuss verspeist, es gibt ausschließlich Würstchen mit Kartoffelbrei und Ketchup. Ginas wahres Interesse gilt dem Geschichtenerzählen; alle müssen sich im Kreis hinsetzen, dann beginnt die Geschichte, die ausufert und manchmal auch die Kinder selbst einbezieht, ihre Rollen in ihrem anderen, oberirdischen Allersmead-Leben. So entsteht ein faszinierendes Durcheinander, und sie wissen nicht mehr genau, wer oder wo sie eigentlich sind.
    Wer die Kellerspiele ausheckt, ob nun das Familienleben in der Holzkiste oder ein Abenteuer auf hoher See, ist hauptsächlich Gina. Sie lenkt den Gang der Handlung und schlägt vor, wer wann was macht, obwohl hier auch andere etwas beisteuern. Paul will viel Action, Katie und Roger haben schon öfter gegen ihre Rollen, wenn sie zu unbedeutend oder zu herausfordernd waren, protestiert.
    »Ich will nicht mitspielen«, sagt Katie.
    »Du musst aber«, erwidert Paul freundlich. »Alle müssen. Das weißt du doch.«
    »Ich spiele aber nicht das Mädchen, das von den Haien gefressen wird.«
    Gina schaltet sich ein. »Sie kann gerettet werden. Wir werfen ihr ein Seil zu.«
    Paul runzelt die Stirn. Das verdirbt alles. Er will nicht, dass der dramatische Höhepunkt verwässert wird. »Dann macht es eben Clare.«
    Clare strahlt. Sie weiß nicht genau, was ein Hai ist.
    *
    Clare kann richtig zum Problem werden. Sie neigt dazu, ihr eigenes Spiel zu entwickeln, und trägt die chaotische Sprengkraft einer Vierjährigen in die Gruppe. Sie wurde erst vor Kurzem überhaupt zugelassen und hat die unbedingte Notwendigkeit von Teamarbeit noch nicht begriffen. Es herrscht eine Art Demokratie, jeder kann Einwände gegen das erheben, was von ihm persönlich verlangt wird, kann Anregungen und Vorschläge einbringen, aber niemand darf vom Kurs abkommen, eine eigene Nebenhandlung einführen oder gar in ein anderes Szenario überwechseln. Man darf nicht anfangen – Clare darf nicht anfangen –, mit dem Stapel Marmeladengläser in dem kaputten Bücherregal zu spielen oder auf einer Matratze herumzuspringen, die keine Matratze ist, sondern ein Boot, ein Planwagen oder ein Schlitten. Da ist es gar nicht schlecht, dass der Keller seine eigenen Tücken hat, die Clare genau kennt; sie mag keine Spinnen und Asseln, noch mehr graut ihr vor den Schlangen, die angeblich in den dunklen Ecken lauern, und erst recht vor den unsichtbaren Daleks. Wenn Doctor Who gespielt wird, muss sich Clare hinter dem Sofa verstecken. Deshalb bleibt Clare im Großen und Ganzen bei der Sache und tut, was von ihr verlangt wird, auch wenn sie das Geschehen häufig verwirrend findet.
    Manchmal werden Besuchskinder gezwungen, das Kellerspiel mitzuspielen. In der Regel haben sie nicht viel Spaß dabei. Sie haben das Gefühl, am Rand zu stehen, nicht ganz zu begreifen, Außenseiter zu sein – ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Und wenn es zu den Strafaufgaben kommt, würden sie am liebsten nach Hause gehen.
    *
    »Iss eine Spinne!«, befiehlt Paul. Das ist neu, und brutal. Alle blicken Sandra an. Wird sie lieber einen Strafpunkt kassieren? Offensichtlich nicht: »In Ordnung«, sagt sie und geht zu dem Winkel mit den vielen Spinnweben unter dem Fenster hinüber. Sie sucht.
    *
    Die Strafaufgaben sind nicht etwa der zentrale Punkt, um den sich das Kellerspiel dreht. Manchmal ist es gar nicht nötig, sich durch solche Aufgaben freizukaufen. Es handelt sich vielmehr um eine Art Ausschmückung, wenn die Dinge sich hin und wieder zuspitzen und die Kreativität und Aufregung einen Höhepunkt erreichen. Jemand wird den Bogen überspannen – oft mit Absicht, als Provokation –, und dann gibt es keine andere Wahl. Im Familienspiel wird eines der Kinder rebellisch und ungehorsam sein und muss an die Kandare genommen werden. Oder auf dem Schiff bricht eine Meuterei aus, oder jemand versagt bei einer Mutprobe. Manche Strafen sind recht milde: zehn Minuten mit verbundenen Augen dasitzen, fünf Minuten in der Hocke sitzen, nackt bis auf die Unterhose ums ganze Haus laufen, »God Save the Queen« singen. Bei anderen wird mehr verlangt: in den Garten gehen, einen Regenwurm ausgraben und zurückbringen, eine von Mums Haarnadeln klauen, fünf Minuten in der Dalek-Ecke bleiben. Strafen sind ebenso fordernd wie unterhaltsam. Wer sie auf sich nimmt

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