Familienalbum
glaube, dass Ingrid geheiratet hat«, sagt Sandra nebenbei.
Alison stellt einen Topf so heftig in die Spüle, dass es knallt, und fordert Sandra auf, nicht so herumzutrödeln und ihr beim Abräumen zu helfen.
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Und Charles? Charles schreibt natürlich an einem Buch. Er hält seine gewohnte Routine aufrecht und besitzt so viel Taktgefühl (oder Klugheit), das unangenehme häusliche Klima mit keinem Wort zu erwähnen – Kinder, die herummaulen, weil zu spät gegessen wird und ihre Sachen verlegt sind. Alison in Auflösung. Er zieht sich noch mehr in sich zurück als sonst. Man könnte meinen, nichts von alledem habe mit ihm zu tun.
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»Dein Vater …«, setzt Philip an.
Gina seufzt. Sie legt ihre Hand auf die seine. »Weißt du was? Ich habe genug von dieser Vergangenheitsbewältigung. Können wir zahlen und ganz schnell verschwinden? Ich würde gern früh schlafen gehen.«
»Klar. Aber – deinen Vater durchschaue ich nicht ganz.«
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Gina hat weniger den Eindruck, dass die Menschen unergründlich oder undurchschaubar sind, sondern findet vielmehr, dass andere Zeiten und andere Umstände nicht mehr zugänglich, nicht mehr verfügbar sind. Diese Dinge liegen im Damals, und dorthin kann man ebenso wenig zurück, wie man das eigene frühere Selbst wieder aufsuchen, die elfjährige Gina jener Zeit, als Ingrid fortging, wiederfinden kann. Jene Person ist zwar sie, Gina, aber gleichzeitig eine ganz andere, eine ferne Fremde, die ihr gelegentlich zuwinkt. Dann blitzt ein Moment des Wiedererkennens auf, aber zum größten Teil bleibt diese Person ein unbekanntes Wesen.
Gina erinnert sich, dass sie ein grünes Federmäppchen hatte, mit Schlaufen für den Radiergummi, den Spitzer, das Lineal, einzelne Stifte und Bleistifte. Sie erinnert sich an die Pracht dieses Federmäppchens, an sein weiches Innenfutter, an den rosa Radiergummi, an den Reißverschluss über drei Seiten. Sie erinnert sich, dass sie ein Tagebuch geführt hat; sie hat es in ihrem Kissenbezug versteckt, damit Sandra es nicht findet. Sie erinnert sich nicht, dass sie groß darüber nachgegrübelt hätte, wohin Ingrid verschwunden war und was ihre Mutter und ihr Vater dabei empfanden. Ingrid war einfach eine Weile nicht da. Na und?
Die eigene Familie scheint sowohl äußerst vertraut als auch völlig fremd. Gina kennt ihre Eltern sehr genau – ihre Gesichter, ihre Stimmen, ihre Art zu gehen, zu lächeln, zu lachen, die Stirn zu runzeln, das Besteck zu halten, den Kopf beim Sprechen zu drehen. Gleichzeitig kennt sie sie überhaupt nicht, hat keine Ahnung, warum sie sich so und so verhielten, was sie wahrnahmen, wie sie die Welt und einander sahen. Was den Rest der Familie angeht – Paul, Sandra, Katie, Roger, Clare –, so flattern ihr die fünf durch den Kopf wie die Bilder eines Daumenkinos, in allen Formen und Größen, auch sie so vertraut wie rätselhaft. Gina hatte sich eingebildet, sie hätte ihre Charaktere erfasst, aber jetzt weiß sie, dass das nicht stimmt – ihre Geschwister entgleiten ihr genauso wie sie selbst.
Und Ingrid?
Gina versucht sich an die Ingrid von damals zu erinnern, sie aus der heutigen Ingrid herauszuschälen. Ingrid war damals zwar eine Autoritätsperson, aber eine zweitrangige, Mum und Dad nicht ebenbürtig. Gina und ihre Geschwister tanzten ihr auf der Nase herum, hörten nicht auf sie, folgten ihr manchmal, manchmal auch nicht. Ingrid hatte hellgoldenes, seidiges Haar und konnte gut nähen; sie nähte ihre eigenen Kleider und manchmal auch etwas für sie, die Kinder; sie konnte Origamifiguren falten und mochte weder scharf Gewürztes noch Kaffee. Was sagt das über Ingrid aus? Natürlich nichts von Belang. Nichts, was ein Licht darauf wirft, was in der Erwachsenenwelt geschah, in der undurchdringlichen Welt von Mum, Dad und Ingrid, von der die Kinder nichts wussten, obwohl sie deren Mittelpunkt waren, um den sich alles drehte. Doch diese Welt ging an ihnen vorbei.
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Alison sortierte gerade in der Küche die Wäsche, als sie die Haustür hörte. Es war zehn Uhr abends. Die Haustür von Allersmead blieb stets unverschlossen, bis Alison und Charles zum Schlafen nach oben gingen. War Charles noch einmal hinausgegangen und zurückgekehrt? Nein, er saß in seinem Arbeitszimmer, da war Alison ganz sicher, und als sie vom Tisch aufstand, hörte sie seine Tür aufgehen: Auch er fragte sich, wer um diese Zeit noch hereinkam.
So trafen sie sich in der Eingangshalle: Alison, Charles und Ingrid, die in jeder Hand einen Koffer
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