Familienalbum
Flohhalsband umzulegen.
*
»Wo ist sie denn hin?«, fragt Philip. »Interessanter Schachzug. Aber warum?«
»Wer weiß? Eine Laune? Auflehnung?«
»Auflehnung gegen wen oder was?«
»Gegen die Tatsachen«, sagt Gina. »Die Situation.«
»Wusstet ihr, was los war? Ihr Kinder?«
Sie nickt. »Irgendwie schon. Die Sache wurde nur nie erwähnt.«
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Sie wissen es. Letzten Endes wissen es alle. Sie wissen es, aber das Wissen wird unterdrückt und weggeschoben, aus den Augen, aus dem Sinn. Das Haus weiß Bescheid und schweigt, sperrt alles weg, was getan, gesagt, gedacht worden ist. Keiner von ihnen kann sich genau erinnern, wie sie es herausbekommen haben, es war, als wäre das Wissen nicht vollständig vertuscht worden, sondern durch einen osmotischen Prozess zu ihnen durchgesickert, als hätten sie es mit dem allersmeadschen Alltag eingesogen, ein schleichendes Begreifen, das sich von einem auf den anderen übertrug. Es gab keine Gespräche, keinen Austausch, keine Bemerkungen. Keiner wollte die Sache erörtern, und wenn die Fakten gefährlich aufglimmen wollten, schlossen sich alle zusammen, um die Glut auszutrampeln und sich davonzumachen, auf sicheres Gelände.
*
»Wir haben einfach nicht darüber geredet«, sagt Gina. »Ist doch die beste Taktik, oder?«
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Philip sagt: »Aber wie wurde Clares Geburt erklärt?«
»Ingrid hat sie von Leuten geholt, die zu arm waren, um selbst für sie zu sorgen, deshalb haben sie sie uns gegeben – ein wunderbares Geschenk.«
»Aha. Ich verstehe.« Philip hört Alisons Stimme.
»Und danach wurde das Thema nicht mehr angeschnitten«, sagt Gina. »Clare war einfach da und Schluss.«
*
Es spricht wirklich niemand darüber. Auch Corinna spricht löblicherweise nicht darüber, außer gelegentlich mit Martin, der nur flüchtiges Interesse zeigt. Corinna ist höchst interessiert und wird nie den Moment vergessen, als ihr am Küchentisch in Allersmead ein Licht aufging. Für sie ein einschneidender Moment, nicht nur der Enthüllung wegen, sondern auch als hübsches Beispiel, wie eine solche Enthüllung die gesamte Wahrnehmung einer Szene verändert. Während sie am Tisch saß, wurde Allersmead durchgemischt und neu zusammengesetzt wie die Teilchen in einem Kaleidoskop.
Es war beim Mittagessen. Ein Familienessen, zu dem Corinna gekommen war, da sie ohnehin vorbeifuhr und seit einiger Zeit unter Schuldgefühlen litt, weil sie die Familie schon länger nicht besucht hatte.
Alle sitzen am Tisch, die Kinder an den Längsseiten, Alison und Ingrid an dem einen Ende, wo sie das Essen austeilen, und Charles mit Corinna am anderen Ende. Sie hat die Kinder eine ganze Weile nicht gesehen – mindestens achtzehn Monate –, und natürlich sind alle größer geworden. Paul ist ein spillriger Zwölfjähriger mit der knochigen, markanten Nase seines Vaters; Gina späht mit scharfem Blick unter einem dunklen Pony hervor; Sandra hat die glänzenden braunen Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und sieht älter aus, ist aber Nummer drei, wie Corinna sich erinnert. Roger und Katie haben beide Alisons rotblonde Wuschelhaare und Sommersprossen. Clare, die bei Corinnas letztem Besuch noch ein Baby war, hat strohblondes gerades Haar und ein kleines rosa Gesicht. Corinna sieht Clare aufmerksam an.
Alison schöpft Schmorfleisch aus einer großen Terrine. Ingrid teilt die Beilagen aus, Kartoffelbrei und Blattgemüse. Die vollen Teller werden den Tisch entlanggereicht, genau auf die Größe der Kinder abgestimmte Portionen; flink läuft das ab und in gut eingespielter Teamarbeit.
Corinna starrt Ingrid an. Und dann wieder Clare.
Was sehe ich da. Was sehe ich.
Aber wer ist dann der …?
Sie sieht Charles an.
Natürlich. Welches Au-pair-Mädchen bleibt zwölf Jahre? Was waren wir schwer von Begriff. Das ist doch völlig klar.
Sie sieht Alison an, die lächelnd in die Runde blickt. Alison mit ihrem ewigen Lächeln.
*
»Ganz recht«, sagt Philip. »Es hat wirklich keinen Sinn, dauernd darauf herumzureiten. Aber deine Mutter gibt mir schon ein paar Rätsel auf …«
»Meine Mutter war unergründlich.«
»Man würde meinen, sie hätte die Schnauze von Ingrid gründlich voll gehabt.«
»O nein. Überhaupt nicht.«
*
Alison antwortet auf die Postkarten. Sie schreibt flehende Briefe an die Kontaktadresse, die Ingrid ihr gegeben hat, aber Ingrid geht auf keiner der Postkarten darauf ein. Vielleicht hält sie sich nicht mehr bei dieser Adresse auf, vielleicht hat sie nichts dazu zu sagen.
»Ich
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