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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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lächelndes, umgängliches Mädchen, und so behält er sie gern in Erinnerung, nicht als die andere, spätere Sophie. Er sieht sie im Pub, wie sie ihm über den Tisch zulacht, er sieht sie neben sich durch den Park schlendern, er sieht sie im Bett, leidenschaftlich hingegeben. Aber sobald er sie erscheinen lässt, drängt sich unaufhaltsam die andere Sophie, die ganz anders redet, mit dazu.
    »Sollte ich nicht mal deine Eltern kennenlernen?«
    »Wann warst du denn genau im College, Paul?«
    »Eine Hausmeisterstelle an einer Schule ist doch keine Lebensperspektive.«
    Sophie verwandelt sich in eine andere Person. Sie bekommt eine Stimme, die Paul bis zum Überdruss vertraut ist, die er zum ersten Mal in Allersmead hörte, vor langer Zeit, und dann von einer Autoritätsperson nach der anderen. Die Stimme, die ihm sagt, was er tun sollte – auf jeden Fall etwas anderes, als er tut –, die Stimme, die ihn in Frage stellt, ihn kritisiert, ihm Ratschläge erteilt. Das hatte er von Sophie nicht erwartet.
    Sie lässt durchblicken, dass sie sich eine langfristige Beziehung wünscht. Eine Ehe. Ein Baby.
    Als Paul vor langer Zeit einmal unerwartet mit einem Baby konfrontiert worden war, hatte er einen geradezu wilden Drang verspürt, sein Leben zu ändern. Aber das war damals, mit einer anderen, die ihn fest an der Angel hatte. Diesmal ist es nicht so. Die Sache ist am Kippen, womöglich wieder eine dieser Situationen, vor denen er die Flucht ergreifen muss.
    Die Ehe, dachte Paul damals wie heute, ist etwas für andere, nicht für ihn. Wie halten die Leute diese Nähe aus, diesen Zwang ständiger Rücksichtnahme auf den anderen, diese Fessel? Jedenfalls nur sehr schwer; da braucht man sich bloß die Scheidungsraten anzusehen, die Ehen, die man kennt.
    Die beiden. Mum und Dad. Dad nimmt im Großen und Ganzen nicht viel Rücksicht, die Tür seines Arbeitszimmers erspart ihm allzu große Nähe, und wie es aussieht, hat er sich auch nicht immer gefesselt gefühlt. Und für Mum ist die Ehe oder vielmehr deren Nebenprodukte – Allersmead, wir Kinder – ihr Beruf.
    Paul denkt über seine Mutter nach, die am Ende des Flurs schläft. Auch sie steht natürlich an der Schwelle zum Alter, aber das kommt bei ihr nicht so unerwartet; wenn er die Bilder, die er von ihr im Kopf hat, zurückblättert, sieht er den Wandel: Sie ist immer ein bisschen dicker, ein bisschen grauer geworden. Und was sie sagt, ist immer nur die Hintergrundmusik von Allersmead gewesen, eine Art Musiktapete, Vivaldi in Küchenvariationen, die Begleitakkorde zu seiner Kindheit, mit denen er groß geworden ist. Diese Musik ist an einem vorbeigeplätschert, man hat sie gehört und auch wieder nicht gehört. Genau wie heute.
    Paul beginnt mit Ausweichmanövern. Er übergeht Sophies Andeutungen. Er bleibt immer öfter weg. Sophie beschwert sich. Und dann ist er eines Tages einfach nicht mehr da. Er hat in der Schule gekündigt und ist, wie Sophie Hinz und Kunz verbittert erzählt, einfach getürmt. Hinz und Kunz merken an, er sei schon ein bisschen merkwürdig gewesen, und vielleicht sei es besser so. Davon ist Sophie nicht ganz überzeugt, aber die mitfühlenden Worte tun ihr gut, und als vernünftige junge Frau macht sie sich daran, Paul aus ihrem Leben zu löschen und sich nach etwas Neuem umzusehen. Womöglich würde es ihr eine gewisse Genugtuung verschaffen, wenn sie wüsste, dass sie in künftigen Jahren immer wieder ein kurzes Gastspiel an Pauls Bett geben wird.
    Die Mitglieder dieses nächtlichen Ensembles loten Pauls Leben aus, eine kunterbunte Truppe, in der einige eine Hauptrolle, andere eher eine Nebenrolle spielen. Manchmal brechen sie in einer Massenszene über ihn herein, dann wieder schleicht sich einer unerwartet heran und verlangt von Paul, er solle noch einmal einen bestimmten Schauplatz aufsuchen. Sophie sitzt auf dem Sofa der gemeinsamen Wohnung und zetert, weil er den ganzen Abend weg gewesen ist und gestern auch . Mopsgesicht streckt die Hand nach dem Fahrradschlüssel aus. Der Psychologe im Rehazentrum löchert ihn, was er von sich selber halte.
    Der Polizist beugt sich aus dem Fenster und sagt: »Paul, unterhalten wir uns mal ein bisschen.«
    Nein, sagt Paul Jahre später. Sei so gut und hau ab. Ich weiß, du meinst es gut, aber lass mich damit in Ruhe.
    *
    Der Raum liegt im obersten Stockwerk eines Hochhauses, eines Bürogebäudes, in dem es gebrannt hat. Paul ist allein in dem Raum, dessen rauchgeschwärzte Wände er säubern muss. Die

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