Familienalbum
Putzfirma ist vielleicht der absolute Tiefpunkt seiner bisherigen Karriere, ein Auffangbecken für alle, die nichts Passenderes für sich zu finden wussten. Es gibt keinen gemischteren Haufen als seine Arbeitskollegen, ein polyglottes Team, in dem viele kaum Englisch können. Egal – Putzkräfte lassen sich durch Gesten und Zuruf anweisen. Paul hat den Job angenommen, weil ihm im Moment alles egal ist; ihm ist egal, was er macht oder wo er ist, am liebsten wäre er nirgendwo, wäre nicht mehr. Er schleppt sich einfach durch die Tage, durch einen sinnlosen, qualvollen Tag nach dem anderen; er hat keine Hoffnungen – außer, dass er sich wieder mal einen Schuss setzen kann –, keine Erwartungen, keinen Willen. Das bisschen Restwillen, das noch in ihm steckt, braucht er für die Bedienung der Reinigungsmaschine, sonst tritt ihm der Aufseher ins Kreuz.
Er ist schon eine ganze Weile allein in diesem Raum. Es ist sein Raum, seine Aufgabe. Der Raum ist größtenteils leer; Möbel und Teppiche sind hinausgeräumt worden. Nur ein großer Schreibtisch mit Wasserschaden steht noch zwischen diesen schwarzen, öligen Wänden, an denen er sich seit etwa einer Stunde abarbeitet. Die Tür ist offen, und er hört aus den anderen Büros auf dem Korridor die Stimmen der Kollegen. Der Aufseher war vor fünf Minuten da; es wird einige Zeit dauern, bis er sich wieder blicken lässt.
Paul geht zum weit geöffneten Fenster, das auf denselben schmalen Balkon hinausgeht wie alle anderen Räume auf diesem Stockwerk. Der Balkon läuft über die gesamte Gebäudefront und hat eine breite Brüstung. Paul starrt auf die Brüstung, steigt mit einem Bein durchs Fenster, dann mit dem anderen, und steht draußen auf dem Balkon.
Er schaut über die Brüstung hinunter. Es ist weit bis zur Straße, ganz schön weit. Nicht viel los da unten – geparkte Autos, einige Passanten, ein Mann geht in den Zeitungsladen gegenüber, ein Kellner raucht vor dem Bistro daneben.
Die Brüstung ist ziemlich hoch, aber nicht zu hoch. Paul macht ein paar Schritte nach links, vom Fenster weg, bis er genau zwischen seinem und dem nächsten Fenster steht. Er schwingt ein Bein über die Brüstung, dann das andere, und nun sitzt er darauf, seine Beine baumeln über die Kante, über der Straße. Ihm wird schwindlig, das macht es sogar noch einfacher. Los, fordert er sich auf.
Der Kellner schaut nach oben. Er lässt die Zigarette fallen und schreit; was er schreit, kann Paul nicht hören. Ein zweiter Kellner kommt heraus, dann jemand in Hemdsärmeln, vielleicht der Wirt. Die drei blicken zu ihm hoch, ebenso eine Frau, die vorbeiging und stehen geblieben ist. Der Mann, der in den Zeitungsladen gegangen ist, kommt wieder heraus, und auch er stellt sich zu den anderen, die nach oben starren. Er gestikuliert und ruft.
Paul blickt auf sie hinunter. Es kommt ihm vor, als wären sie sehr weit weg und hätten nichts mit ihm zu tun. Los. Mach schon.
Ein weiterer Passant bleibt stehen. Und noch einer. Man bespricht sich, berät sich. Der Bistrowirt geht wieder hinein.
Alles erscheint Paul überscharf und gleichzeitig sehr unwirklich. Er hört ein Auto hupen, ein Flugzeug, das Zuschlagen einer Autotür. Er sieht in einem Fenster des Gebäudes gegenüber ein Gesicht, er sieht zwei Tauben in Kurven vom Dach nach unten gleiten, er sieht über sich eine Möwe schweben. Wenn er hinunterschaut, wird ihm wieder schwindlig, alles schaukelt ein wenig, der Asphalt schlägt kleine Wellen. Er hört eine Polizeisirene.
Das Polizeiauto biegt in die Straße ein und bleibt unten stehen; die Sirene ist abgestellt, nur das Blaulicht blinkt. Zwei Polizisten steigen aus. Paul sieht sie und sieht sie auch wieder nicht. Los. Jetzt.
Die Polizisten sind nicht mehr da und das Grüppchen auf dem Gehweg ist größer geworden. Eine Frau presst die Hand vor den Mund.
Paul sieht zu, wie über dem Dachfirst gegenüber ein Flugzeug über den Himmel kriecht. So langsam. Wie schaffen die es, oben zu bleiben? Er wird die Arme ausbreiten und ein Flugzeug sein.
Jemand spricht zu ihm. Ein paar Meter entfernt sieht er einen Kopf im offenen Fenster. Der Kopf spricht. Er sagt etwas, dann noch etwas, dann noch etwas, dann etwas anderes. Manchmal antwortet Paul.
»Wie heißen Sie?«, fragt der Polizist.
»Paul«, sagt Paul. »Komm mir bloß nicht in die Nähe, ja? Bleib, wo du bist.«
»Hören Sie mal, Paul«, sagt der Polizist. »Jetzt unterhalten wir uns mal ein bisschen.«
»Nein«, sagt Paul.
»Haben Sie
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