Familienalbum
sie Freude aneinander, gegenseitige Wertschätzung, das befriedigende Gefühl, dass der andere genauso empfindet und reagiert. Und er gefällt ihr – sein schmales Gesicht mit dem ausdrucksvollen Mund, die beredten Lippen, die eindringlichen braunen Augen. Sie liebt ihn um seiner weit gespannten Interessen willen, seiner leidenschaftlichen Konzentration. Sie liebt ihn im Bett.
Philip lebt anders als sie. Nicht stets bereit, auf Abruf ins Flugzeug zu steigen. Das wäre ihm zu dumm, sagt er. Er ist Produzent, verbringt viel Zeit am Schreibtisch mit Planen und Projektentwicklung, hat zwischendurch aber auch Phasen explosiver Aktivität. Er zieht Gina mit ihrem Globetrotterleben liebevoll auf: Ihr seid doch alle durchgeknallt, sagt er, süchtig nach dem großen Drama. Aber sie weiß, dass sich hinter seinem Gefrotzel Respekt und häufig auch Besorgtheit verbergen. Öfter als je zuvor ruft sie zu Hause an, weil sie in ihren Hotelzimmern auf anderen Kontinenten seine Stimme so gern hört. Sie weiß, dass diese Lebensweise dauerhafte Beziehungen nicht gerade fördert. Zum ersten Mal überlegt sie, ob sie Auslandseinsätze aufgeben soll. Das würde eine Rückkehr zu Hundeschauen bedeuten, zu Interviews mit Hundertjährigen, auf etwas anspruchsvollerem Niveau: Parteitage, Ausbruch der Maul- und Klauenseuche. Als sie so etwas andeutete, lächelte Philip. »Nach einem Monat würdest du die Wände hochgehen und nach einem Flieger lechzen. Du bist dieses Leben jetzt gewöhnt, bist davon geprägt. Ich weiß, warum du das vorschlägst, und fühle mich geschmeichelt. Aber lass es lieber.« Sie war erleichtert und dankbar. Trotzdem fiel ihr auf, dass viele ihrer Kollegen, die ständig auf Achse waren, keinen festen Partner hatten. Einige der Männer hatten Frau und Kinder, ein Häuschen im idyllischen Surrey, die Frauen aber waren zum größten Teil ungebunden. Oder unglücklich?
Sie hatten nur einmal von Kindern gesprochen. Kurz. Das sollten wir klären, hatte er gesagt. Ich bin dazu bereit, wenn du wirklich willst. Sonst … Sonst?, fragte Gina. Sonst verzichte ich. Ich auch, hatte sie gesagt. Ich bin ja auch schon neununddreißig. Damit war die Sache erledigt.
Er hatte aus seiner Ehe keine Kinder. Die beruflich sehr engagierte Exfrau hatte es auf die lange Bank geschoben, bis die Ehe in den letzten Zügen lag und an Kinder nicht mehr zu denken war. Auch gut, sagte Philip. Kein Kollateralschaden.
Gina wusste, dass sie die Entscheidung womöglich eines Tages bereuen würde, wenn man denn von Entscheidung sprechen konnte. Paradoxerweise wimmelt es in ihrem Leben nur so von Kindern. Wenn irgendwo auf der Welt eine Katastrophe hereinbricht, stehen Kinder an vorderster Front; sie liefern die Story, den Schnappschuss, sie bleiben später in Ginas Kopf hängen – stumm, mit großen Augen, dürren Gliedmaßen und aufgetriebenen Bäuchen, mit eiternden Wunden, Missbildungen und einem Stumpf anstelle von Hand oder Fuß. Sie tritt diesen Kindern gegenüber, weil das ihr Job ist, sie sind der Grund, warum sie hier ist, die Welt muss von ihnen wissen. Gina sendet sie in eine Million wohlhabender Haushalte, um dort Unbehagen zu schüren.
Gina führt zwei Leben. Das Londoner Leben in ihrer Wohnung mit Philip, mit den U-Bahn-Fahrten ins Studio, dem Samstagseinkauf im Supermarkt, den Essen mit Freunden, den Kino- oder Galeriebesuchen. Ein Leben, dessen Widrigkeiten geringfügig sind und sich schnell beheben lassen: Zahnschmerzen (Zahnarzt anrufen), Bronchitis (Antibiotika), Rohrbruch (Installateur). Für Gina und alle, die sie kennt, ist Abhilfe schnell zur Hand. Ab und zu passiert etwas Schreckliches, ein Autounfall, eine Krebsdiagnose; aber das sind Ausnahmen, so weit von der Normalität entfernt, dass man überrascht und schockiert ist, empört sogar über einen solchen Einbruch, der einen daran erinnert, welche Übel es in der Welt gibt.
In Ginas anderem Leben gibt es keine Sicherheit. Gina wird in Welten hineinkatapultiert, in denen alles schiefläuft, Welten, in denen Menschen massenweise verhungern oder wie selbstverständlich unter Beschuss stehen, an Krankheiten, an AIDS leiden, von Landminen verstümmelt werden, von den Folterknechten der Despoten geprügelt werden. Menschen, an denen Zahnschmerzen oder ein Rohrbruch unbemerkt vorübergehen würden. Gina und ihr Kamerateam bewegen sich zwischen diesen Menschen und werden mit deren Situation konfrontiert, wissen aber, dass sie von einer unsichtbaren Wand abgeschirmt werden, dass
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