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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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dem zweiten Zwischenstopp knisterte das Handy den nächsten Auftrag durch, etwas ziemlich Ausgefallenes: eine Geburtstagstorte von einer Konditorei abholen und nach Hampstead bringen, in eine dieser Villen am Park – und Tempo, die brauchen die Torte für die Kinderparty, subito .
    Die Frau in der Konditorei reagierte etwas verärgert: »Warum haben die nicht den Lieferwagen geschickt? Normalerweise werden Torten im Lieferwagen transportiert.« Paul erklärte, dass der Wagen gerade in der Werkstatt sei: »Das geht schon in Ordnung.« Der Kuchen war in einer Schachtel. »Die Schachtel passt in die Box auf meinem Gepäckträger.« Sie passte tatsächlich hinein, aber der Deckel ging nicht ganz zu. »Kein Problem – keine Sorge.«
    Als er den Haverstock Hill hochfuhr, bremste der Laster vor ihm plötzlich – ein Hund war auf die Straße gelaufen. Paul prallte auf den Laster, flog vom Fahrrad, das Fahrrad schlitterte über die Straße, die Box ging auf, die Kuchenschachtel auch, und das war’s dann. Ein Meisterwerk, dieser Kuchen, vom Feinsten, das sah man sogar noch, als er in Brocken auf dem Asphalt lag: weißer Zuckerguss, rosa Zuckerguss, Rosetten, ein aufgespritzter Schriftzug. Wie schade!
    Das war für Paul bei Speedbikes das Aus. »Einmal zu oft«, sagte Mopsgesicht. Und jetzt steht er hier neben Pauls Bett in Allersmead und sagt es wieder. Aber mit einiger Anstrengung wird man solche Leute wieder los. Man konzentriert sich auf etwas anderes, auf jemand anderen, und sagt zu Mopsgesicht, er soll bloß Leine ziehen.
    Die Leute, die sich da im Kopf tummeln, tauchen nie in der richtigen Reihenfolge auf. Charlie aus dem Rehazentrum kommt lange vor Mopsgesicht von Speedbikes, aber er erscheint erst jetzt und meldet seine Ansprüche an.
    Paul hat mit Charlie ein Zimmer geteilt. Als sie sich zum ersten Mal sahen, sagte Paul: »Du heißt genauso wie mein Dad.« Das sagte er, um überhaupt etwas zu sagen, aber auch, weil ihn die Unterschiedlichkeit der beiden verblüffte. Charlie war ein lustiger Südlondoner Proll, man konnte sich keinen größeren Gegensatz zu seinem Vater vorstellen. Und Charlie antwortete im Ton eines besorgten Psychologen: »Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung zu Ihrem Vater, Paul.« Da kugelten sich beide vor Lachen auf ihren Betten und wussten, dass sie die Zeit hier durchstehen würden, mit ein bisschen gegenseitiger Unterstützung.
    Charlie war dünn und schreckhaft und hörte selten auf zu reden. Seit er sechs war, hatte er seinem Vater am Marktstand geholfen; er war Schulschwänzer aus Prinzip und hatte natürlich Drogen genommen. Er hatte drei Schwestern, und seine Mutter war gestorben, als er neun war; mit zehn wurde er beim Ladendiebstahl geschnappt, mit zwölf hatte er einen Fahrradunfall und lag eine Woche auf der Intensivstation. Oder? Charlie verfügte über viele Lebensgeschichten, zugeschnitten auf jeden Anlass. Er lieferte bereitwillig die fruchtbarsten Beiträge in den Gruppentherapiesitzungen, bei denen ein bunter Haufen mit einem der Rehaleute zusammenhockte und von jedem ein persönliches Bekenntnis erwartet wurde. Selbstzerfleischungsorgien nannte Charlie diese Sitzungen, und er übertraf stets alle anderen, wenn er ein bisher unerwähntes Erlebnis einer persönlichen Schwäche, Misshandlung oder verdrängten traumatischen Erfahrung vorbrachte. Von seinem Beispiel angefeuert, stellte Paul Allersmead als Sartre’sche Hölle dar, in der sechs Geschwister um Brosamen elterlicher Aufmerksamkeit konkurrierten. Er unterschlug, so gut es ging, sämtliche Mittelklassemerkmale, entzog seinem Vater die schriftstellerische Neigung und verpasste ihm dafür eine chronische Erwerbsunfähigkeit, ließ Ingrid unter den Tisch fallen und ersetzte seine Mutter durch einen egozentrischen Hausdrachen. Die Schuldgefühle, die das in ihm weckte, kamen ihm sehr gelegen, denn so redete er stockend und verzagt wie ein geprügelter Hund, was gut ankam. Seine Beiträge brachten ihm von anderen Gruppenmitgliedern viel Anteilnahme und verständnisvolle Ratschläge ein.
    Sogar Charlie war beeindruckt. Für ihn verstand es sich von selbst, dass Paul nicht die Wahrheit sagte, und er zeigte wenig Interesse an Pauls wahren Lebensumständen. Das Einzige, was für ihn zählte, war die Manipulation des Systems hier: Gib ihnen, was sie wollen, und schleim dich damit ein. Er saß oft mit umschlungenen Knien auf der Bettkante, ein schmächtiges, fiebriges Kerlchen, und unterwies Paul in der Kunst, in jeder

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