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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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Situation Oberwasser zu behalten: »Du schaust genau hin, kapiert? Und dann machst du dein Ding, aber so, dass sie es nicht merken.« Er war sowohl beim Personal als auch bei den Mitinsassen beliebt und würde das Zentrum zweifelsohne als scheinbar geläuterter Charakter verlassen. Es gab einige Anzeichen, dass er mit Orten dieser Art bereits vertraut war. Aber diesmal würde er von den Drogen wegkommen, sagte er ernsthaft, das steht fest. Felsenfest. Drogen sind Scheiße.
    Das waren Momente, in denen man Charlie glaubte. Paul beneidete ihn um sein angeborenes Selbstvertrauen, das es ihm erlaubte, mit List und Überredungskunst seinen eigenen Weg zu verfolgen. Dazu brauchte es sowohl Energie als auch eine sich immer neu entzündende Fantasie. Paul war sich bewusst, dass ihm genau das fehlte, die Fähigkeit zur Selbstmotivation; das hatten ihm Autoritätspersonen jahrelang eingetrichtert. Er studierte Charlie in der Hoffnung, einiges von dessen Methode würde auf ihn abfärben. Charlie besaß eine innere Konsequenz; seine Selbstdarstellungen mochten widersprüchlich sein, aber dahinter steckte immer eine unverrückbare Absicht. Er hatte einen Plan und hielt sich daran fest. Grob gesagt bestand dieser Plan darin, nach eigenem Gusto zu leben, und nicht so, wie andere es gern hätten.
    Paul beneidete ihn um diesen Lebensplan. Er selbst hatte keinen und wusste das auch. Er hatte nicht vorgehabt, das Examen zu versieben, von einem zukunftslosen Job zum anderen zu treiben, drogenabhängig zu werden. Diese Dinge stießen ihm einfach zu, und je öfter sie passierten, desto tiefer schien er in einer Art Teufelskreis zu versinken. Andere sahen das natürlich nicht so; er zählte nicht mehr, wie oft er zu hören bekam, er solle sich zusammenreißen, oder – allgemein sehr beliebt – er sei selbst sein schlimmster Feind.
    Die Feindestheorie gefiel ihm eigentlich recht gut. Sie legte einen unüberwindbaren inneren Konflikt nahe, zwei einander bekriegende Seelen in der eigenen Brust: Der böse, destruktive Paul warf dem guten, tüchtigen Paul ständig Stöcke zwischen die Beine. Und wenn man nun mal so war, konnte man nicht viel dagegen tun, oder?
    Paul wusste auch nicht mehr, wie lange er im Rehazentrum gewesen war; diese Zeit schrumpfte zu einer Sammlung von Bildern zusammen, die von Zeit zu Zeit aufschienen, Bilder von Psychologen, von Mitinsassen und vor allem von Charlie. »Eins kannst du mir glauben«, sagte Charlie oft. »Wenn du ein einziges Mal erkennen lässt, dass du einknickst, dann haben sie dich, wo sie dich haben wollen.« Paul war nicht ganz klar, was Charlie mit »einknicken« meinte, aber er sprach mit charismatischer Überzeugung, was Paul dazu anspornte, ihm beim Untergraben jeglicher Autorität nachzueifern. Also erzählte Paul den Rehaleuten, was sie seiner Meinung nach hören wollten, versuchte, Charlies Überlebenstechnik abzukupfern. Einen Plan.
    Charlie beendete seine Rehamaßnahme kurz vor Paul und schwor ewige Freundschaft. Er schrieb ihm eine Telefonnummer auf: »Ruf an, ja? Dann treffen wir uns und gehen einen trinken.«
    Paul sollte ihn nie wiedersehen. Als er die Nummer wählte, meldete sich jemand, der von Charlie noch nie gehört hatte. Erst neuerdings schaut Charlie gelegentlich auf einen Besuch an Pauls Bett in Allersmead vorbei und grinst. »Kennst du mich noch?«
    Manchmal taucht an Pauls Bett auch Dad auf. Natürlich nicht der richtige, der schläft im Zimmer am Ende des Gangs, sondern ein anderer, der Dad, der vor Urzeiten ums Verrecken nichts springen ließ, als Paul mit seinen Kumpeln nach Amsterdam wollte, der Dad, der mit grimmigem Gesicht auf dem Polizeirevier von Bude erschien, mit einer weinerlichen Mum im Schlepptau. Dieser Dad ist kurz angebunden und sarkastisch; der Ton ist Paul unendlich vertraut und wird auch heute noch von Dad angeschlagen, hat jetzt aber weniger Gewicht, ist durch Wiederholung verblasst und nur noch eine Art weißes Rauschen – lästig, aber ohne die frühere Macht. Wenn Paul Dad heute ansieht, dann sieht er einen alternden Mann, und das ist irgendwie mitleiderregend. Nicht einmal er, nicht einmal Dad wird verschont.
    Aber damals hatte, was Dad sagte, Gewicht. Oje, und wie. Seine Bemerkungen konnten verletzen, konnten einem das Gefühl vermitteln, man sei noch viel unzulänglicher, als man sich ohnehin schon einschätzte. Wie er bei einer Auseinandersetzung immer als Sieger hervorging, einem den endgültigen Todesstoß versetzte. Wie kritisch er ein

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