Familienalbum
Schulzeugnis las und es einem mit bedeutungsschwerem Schweigen zurückgab.
Als wir das Kellerspiel spielten, denkt Paul, war ich immer der Vater und nahm mir immer vor, Dad möglichst wenig zu ähneln. Wenn ich Büffel schoss. Als Schiffskapitän. Wenn ich mich in James Bond verwandelte, falls ich Lust dazu hatte. Aber ein Schatten von Dad schlich sich immer ein, kommt mir vor – ich habe die Peitsche geschwungen, damit alle spuren, habe sie herumkommandiert. Da drunten konnte ich mal der Boss sein.
Von Zeit zu Zeit kreuzt eins der Geschwister auf. Sandra öffnet die Faust und steckt sich eine Spinne in den Mund – wirklich? Roger zeigt medizinisches Interesse für Pauls Schnittwunde am Finger: »Ich muss sehen, wie stark sie blutet.« Clare will, dass er ihr bei ihren Handständen zusieht. Katie sieht ihn besorgt an – er hat Grippe oder so was, und Mum hat sie mit einem Glas Limonade hochgeschickt. »Stirbst du jetzt?«, fragt sie.
Gina fordert ihn auf, sein Leben auf die Reihe zu kriegen. Sie redet erbittert auf ihn ein. »So kannst du nicht weitermachen«, sagt sie. »Ein Idiotenjob nach dem anderen.« Das war vor Jahren, als er in der Klinik als Hilfspfleger arbeitete. Sie treffen sich auf ein Bier; sie kommt frisch aus einem Fernsehstudio, er hat gerade Pause und muss dann die OP-Säle wieder mit Frischfleisch versorgen. Sie redet von Kursen, von Ausbildungsmöglichkeiten. Hört sich so an, als wollte sie ihn aufs College zurückschicken, und er winkt ab. Er macht diesen Job nur eine Weile zwischendurch, versichert er ihr; wenn er bereit dazu ist, wird er sich nach etwas Ernsthaftem umsehen, nach einem richtigen Job. Sie runzelt die Stirn. »So kannst du jedenfalls nicht weitermachen, Paul.«
Heute redet er nur noch mit Gina. Komisch, dass alle anderen in alle Winde verstreut sind. Roger in Kanada, Katie in Amerika, Sandra – wo ist die gleich wieder? Italien war das doch, oder? Clare tourt mit dieser Tanztruppe überall in der Weltgeschichte herum. Er hatte seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr mit seinen Geschwistern. Früher hockten sie sich gegenseitig auf der Pelle, tagein, tagaus, ihre Gesichter waren so vertraut wie das eigene, genauso ihre Stimmen, und dann – wusch – vom Winde verweht. Allersmead ist eine Pusteblume, die Samen davongeflogen.
Außer ihm. Und Gina ist noch einigermaßen in der Nähe, aber die halbe Zeit auf Achse, rund um den Globus. Wollten etwa alle so weit weg wie möglich?
Mum spricht. Häufig. Das ist ja klar. Es strömt aus ihr in Sturzbächen, wie immer, meist nur atmosphärische Störgeräusche, aber ab und zu tönt ein Satz laut und deutlich heraus. Sie beruhigt ihn, dass Dad dieses schreckliche Zeugnis nicht sehen wird: »Ich werd’s irgendwie verschusseln, Schatz.« Sie weint in Crackington Haven: »Das lag bloß an diesen schlimmen Jungs, nicht? Du allein hättest das nicht gemacht, oder?« Sie fleht ihn an: »Gib uns eine Telefonnummer . Ich weiß nie, wo du bist.« Aus dem Wust der Erinnerungen an sie klingt ihm nur das eine im Ohr: »Du warst natürlich immer mein Liebling.«
Seit er im Gartencenter arbeitet, rückt er nie damit heraus, wo er wohnt. »Ich wohne bei meinen Eltern und ihrem – äh – Au-pair-Mädchen.« Das geht gar nicht! Er zieht neugieriges Interesse auf sich, das lässt sich nicht vermeiden – er ist zu alt für einen solchen Job. Warum macht er ihn? Wo liegt das Problem? Er wehrt alle Fragen ab, seine Taktik seit Jahren; er ist geschickt darin, fröhliche Kurzzeitbekanntschaften zu knüpfen, aber niemanden so nahe an sich heranzulassen, dass er nachbohren könnte. Es wimmelt nur so von Menschen, die Paul recht gut gekannt haben, die mit ihm geplaudert, getrunken, geschlafen haben, aber nachträglich erkennen mussten, dass sie nichts von ihm wussten. Sie würden von ihm sagen, dass er keine Vergangenheit zu haben schien.
Als Paul in Allersmead im Bett liegt und diese unentrinnbare, dicht bevölkerte Vergangenheit in ihm nachhallt, geht er alle durch, die sich ihm anbieten, und erlaubt Sophie, einen Schritt vorzutreten. Sophie war Lehrerin an der Schule, an der er als Hausmeister arbeitete – wie lange? Ach, sicher zwei Jahre. Da hatte er sich durchaus einer gewissen Verpflichtung unterworfen, was zum großen Teil an Sophie lag. Schließlich sind sie zusammengezogen, waren ein Paar – die Direktorin wusste es und lächelte wohlwollend.
Sophie unterrichtet die Kleinen, die Schulanfänger. Sie ist entzückend, ein zierliches,
Weitere Kostenlose Bücher