Familienalbum
Gedicht geschrieben, sie musste es in der Klasse laut vorlesen. Gina, hol’s runter und zeig es Corinna.«
Charles erhebt die Stimme: »Keinen Sadismus am Teetisch, möchte ich bitten.«
Alison runzelt die Stirn. »Ich begreife dich nicht, Schatz. Gina, möchtest du denn nicht …«
Gina funkelt sie zornentbrannt an.
»Von Thomas Babbington Macaulay«, beantwortet Corinna, immer noch zu Charles gewandt, Alisons Frage, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Ich glaube, ich versuche es mit meinem neuen Buch einmal bei der Oxford University Press. Hast du schon bei denen veröffentlicht? Oder sind die für dich nicht kommerziell genug?« Schelmisches Lächeln. »Zum Glück brauche ich mich um die kommerzielle Seite nicht allzu sehr zu kümmern; erste Priorität hat bei mir die sorgfältige Produktion eines Buchs, und natürlich ist die Abnahme durch die akademischen Bibliotheken garantiert.«
Charles lässt seine leere Teetasse den Tisch entlang zu Alison hinunterreichen. »Was hast du für ein Glück. Aber auch diejenigen unter uns, die auf eine Leserschaft angewiesen sind, möchten gern, dass unsere Bücher gut aussehen.«
Er trägt einen schwarzen Pullover über einem grauen Hemd mit ausgefranstem Kragen. Ein Bügel seiner Brille ist mit Pflaster umwickelt.
So driftet er immer noch durch Ginas Kopf. Wie alle anderen.
*
Gina hat Sandra schon seit Jahren nicht gesehen, genauso wenig wie Katie und Roger. Sie redet ziemlich oft mit Paul, wie schon immer. Sie sieht ihn jetzt jedes Mal, wenn sie nach Allersmead fahren; davor ist er ab und zu bei ihr aufgekreuzt und hat vorgeschlagen, einen trinken zu gehen.
Wenn Clares Compagnie, die ihren Sitz in Paris hat, nach London kommt, ruft auch Clare bei ihr an. Gina hat Clare schon oft tanzen sehen und staunt jedes Mal über die professionelle, geschmeidige Ballerina, die aus dem Kokon Clare geschlüpft ist, aus dem kleinen Mädchen, dem Teenager, der im Wohnzimmer Spagat geübt hat. Sie ist auch verblüfft, wie nüchtern die junge Frau davon spricht, in absehbarer Zeit mit dem Tanzen aufzuhören. Clare ist zweiunddreißig. In ihrem Beruf ist man dann ausgebrannt. Clares Compagnie gibt sich nicht mit Tutus und Tschaikowsky ab, sondern hat sich dem Modern Dance verschrieben, in dem es allein um Form und Stil geht; sie ist von Diaghilev genauso weit entfernt wie James Joyce von George Eliot, denkt Gina, wie Picasso von George Stubbs. Gina hat die Aufführungen bewundernd verfolgt, obwohl dies nicht die Kunstform ihrer Wahl ist. Aber ihr gefallen die Anmut und Athletik, die Kreativität, die Elemente des Schocks und der Überraschung. Wenn sie Clare auf der Bühne entdeckt, sieht sie ein Geschöpf, das mit der Clare von einst, dem Kind in ihrem Kopf, nicht mehr das Geringste zu tun hat. Aber beim Kaffee oder Lunch taucht dieses Kind wieder auf, lebt noch weiter in der eleganten, grazilen Schönheit, der die Leute verstohlene Blicke zuwerfen. Spindeldürr, immer noch mit dem maisgoldenen Haar, das nun zu einem Nackenknoten geschlungen ist. Ingrids Haar, aber das wird nie erwähnt, auch jetzt nicht; niemand rührt daran, diese Kiste ist versiegelt und in die Tiefe versenkt, wo sie keinen Schaden anrichten kann.
»Aufhören?«, fragt Gina. »Lieber Himmel! Und was machst du dann?«
»Wahrscheinlich unterrichten«, sagt Clare mit einem Achselzucken. »Eine Umschulung zur Bewährungshelferin?« Sie lacht. »Vielleicht aufs Land ziehen. Pierre liebäugelt mit einem Weingut im Languedoc.« Clares Partner ist IT -Berater. Sie sieht Gina an. »Und ihr Reporter? Macht ihr einfach ewig weiter?«
»Du liebe Zeit, nein«, sagt Gina. »In meinem Job gibt es viel Altersdiskriminierung. Man macht so lange weiter, bis man von den nachkommenden jungen Wilden beiseitegerempelt wird.«
»Für deinen Beruf muss man ganz schön clever sein.«
»Ich finde dich auch ziemlich aufgeweckt«, sagt Gina. Sie grinsen sich an.
Clare kommt gerade von Allersmead. »Ich kann nicht glauben, dass ich da so viele Jahre lang gewesen bin. Es kommt mir heute vor wie ein fremdes Land. Sie sind immer noch genauso, findest du nicht? Nur ein bisschen … verblasst. Mum hat dauernd auf Enkelkinder angespielt.«
Gina nimmt Clare in Augenschein. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Baby in diesen asketischen Körper passen sollte. »Wirst du ihr den Gefallen tun?«
Clare schüttelt den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
»Der Fortpflanzungstrieb ist mit unserer Generation offenbar erloschen«, sagt
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